Über das Böse (Wolfgang Illauer)

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Der Artikel Über das Böse (Wolfgang Illauer) ist eine Rede von StD i.R. Wolfgang Illauer, die am 25. Februar 2015 im Gymnasium bei St. Anna (Augsburg) gehalten wurde.

Einleitung

Würde ich Sie, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, und mich selbst einem sogenannten Brainstorming unterwerfen (was fällt uns spontan ein zum Begriff „das Böse“?), dann kämen wahrscheinlich solche Antworten heraus: Neonazis ziehen mordend durch Deutschland; Gotteskrieger verbrennen einen Gefangenen bei lebendigem Leib vor laufender Kamera; bestialische Sexualmorde; entsetzliche Massaker; teuflische Diktatoren wie Stalin, Pol Pot, Hitler...

Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, die Literatur kenne eigentlich nur zwei Themen: die Liebe und den Tod. Das stimmt nicht! Es gibt noch andere große Themen, darunter ein Thema, das der Liebe und dem Tod an Bedeutung gleichkommt: eben das Böse in seinen unzähligen Erscheinungsformen und Auswirkungen! Neben Liebe und Erotik (und oft damit verbunden) ist das Böse die am häufigsten und ausgiebigsten verwendete Zutat bei der Produktion von Büchern, Theaterstücken und Filmen! Unabdingbar ist es bei allen Kriminalromanen und Kriminalfilmen, bei allen sogenannten Psychothrillern. Dasselbe gilt für die große Literatur: Was wären die Tragödien eines Shakespeare ohne ihre Bösewichte, ohne Jago, Richard III., die furchtbare Lady Macbeth? Was wären Schillers Räuber ohne Franz Moor? Was wären die Erzählungen Karl Mays (er ist kein Shakespeare, kein Schiller; aber man sollte ihn nicht verachten!) ohne Santer, Old Wabble, ohne den Schut? Was wäre ein Stephen King, ein E.T.A. Hoffmann, ein Edgar Allan Poe, wenn in ihren Erzählungen das Wirken böser Kräfte fehlte? Viele Schöpfungen der Weltliteratur brächen in sich zusammen ohne das in ihnen enthaltene Böse, weil es offenbar zur Wirklichkeit gehört, zum Bau der Welt und deshalb auch zum Bau des literarischen Kunstwerks.

Das Böse in Kunst und Literatur (es übt auf uns eine geheimnisvolle Faszination aus) ist nur ein Spiegelbild des in unserer realen Welt wirkenden Bösen. Was in unserer realen Welt an Scheußlichkeiten, Grausamkeiten und Verbrechen in der Vergangenheit geschehen ist, im jetzigen Augenblick gerade geschieht und weiterhin geschehen wird (nicht nur in der großen Geschichte, sondern auch im kleinen menschlichen Alltag), übersteigt unsere Vorstellungskraft. Manchmal verstärkt sich die Aktivität des Bösen zu Jahrtausendkatastrophen, zu gewaltigen Vulkanausbrüchen der destruktiven Kräfte. Einer der schlimmsten, vielleicht der allerschlimmste uns bekannte Vulkanausbruch des Bösen ist der Holocaust. Zwei neue Vulkanausbrüche haben begonnen. Hoffentlich hören sie bald wieder auf! Islamischer Staat und Boko Haram.

Ich komme jetzt zum ersten Punkt des Hauptteils meines Vortrags: Welche Deutungen, welche Erklärungen des Bösen liefern uns die Religion, die Philosophie, die Psychologie, die Naturwissenschaft? Sechs verschiedene Erklärungen habe ich gefunden. Sie sind fast alle sehr radikal und lassen viele Fragen offen.

Hauptteil

Die sechs Erklärungen des Bösen (seiner Existenz bzw. Nichtexistenz)

Der Dualismus

Zwei gleichstarke, radikal verschiedene, in ihrem Ursprung völlig getrennte Mächte liegen seit Anbeginn der Zeiten im Kampf miteinander: Licht und Finsternis, das Gute und das Böse. Sie ringen um jeden Menschen. Der Mensch ist vor die Aufgabe gestellt, sich für das Gute zu entscheiden, dem Guten in sich selbst zum Sieg zu verhelfen. Diese dualistische Position hat für Leute, die an Gott glauben, einen großen Vorteil: Gott, den sie sich ja gern vorstellen als gerechten, liebenden und verzeihenden Vater, als die ungetrübte Quelle des Guten, dieser Gott kann jetzt natürlich nicht mehr für die Entstehung des Bösen verantwortlich gemacht werden. Eine Rechtfertigung Gottes (Theodizee) ist nicht mehr nötig. Er kann ja nichts dafür, daß es neben seiner Lichtgestalt die finstere Macht des Bösen gibt. Der berühmteste und älteste uns bekannte Dualist ist der iranische Priester-Prophet Zarathustra aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Ähnliche Gedanken finden wir bei den Manichäern, zu deren Anhängern der junge Augustinus gehörte.

Das Böse ist keine dem Guten (auch nicht im entferntesten!) gleichwertige Macht.

Nur das Gute liegt der Welt zugrunde. Nur das Gute existiert wahrhaftig und wirklich. Das Böse ist nichts anderes als ein Mangel, ein Defekt, eine Störung der richtigen Ordnung, eine Verfallserscheinung.

Für die Entstehung eines so verstandenen Bösen werden die verschiedensten Ursachen genannt: z. B. die Erbsünde (christliche Theologie) oder die Unvollkommenheit der Materie (Plotin) oder die Unfähigkeit der Vernunft, pflichtwidrige Triebe und Neigungen immer zu kontrollieren und zu beherrschen.

Irgendwie befriedigt diese Herabstufung des Bösen zum bloßen Defekt nicht so recht. Erleben wir doch fast jeden Tag, wenn wir die Geschehnisse in der Welt verfolgen, die machtvolle Gegenwart des von Menschen verursachten Bösen in der Gestalt entsetzlicher Untaten allergrößten Ausmaßes. Frommen und gottgläubigen Menschen drängt sich eine Frage auf, die noch niemand überzeugend beantwortet hat: Wie kann Gott, unser Vater im Himmel, das Leid unzähliger unschuldiger Opfer ruhig mit ansehen? Ich vergleiche, etwas salopp, das vom guten Gott geschaffene Menschengeschlecht mit einem Auto. Dieses Auto, so müssen wir leider feststellen, hat nicht nur Defekte, es weist schwerste Konstruktionsfehler auf. Immer wieder versagt die Lenkung, immer wieder versagen die Bremsen, fürchterliche Unfälle sind vorprogrammiert: die Weltkriege, Stalin, Hitler, ethnisch-religiöse Konflikte mit Abertausenden von Toten ... Wie konnte Gott einen solchen Murks produzieren? Und warum ruft er das Auto nicht in seine himmlische Werkstatt zurück, nicht zur Reparatur, sondern zum Umbau und zur gründlichen Neukonstruktion?

Hier hilft uns die Position 3 weiter. Sie versucht eine Antwort, sie enthält eine Theodizee.

Das Böse ist zwar keine dem Guten gleichwertige Macht, aber auch kein bloßer Defekt

Es ist vielmehr notwendig, hat einen Sinn und dient letztlich zum Guten, und zwar teils aus Gründen, die wir Menschen mit unserem begrenzten Erkenntnisvermögen nicht verstehen können, teils um hoher Güter willen, deren Vorhandensein ohne das Böse, ohne die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse undenkbar ist. Denn wären die Menschen lediglich von vornherein aufs Gute programmierte, zum Bösen unfähige Marionetten, dann wären überragende, staunenswerte Leistungen der menschlichen Freiheit nicht möglich: Formung eines edlen Charakters aus eigener Einsicht und Kraft gegen große innere Versuchungen und äußere Widerstände; mutiger Kampf für die Menschenrechte und den Fortschritt in unserer Welt! Die unsere uneingeschränkte Hochachtung verdienende Tapferkeit etwa der jungen Pakistanerin Malala gäbe es nicht, wenn es die Taliban nicht gäbe! Leute wie Bonhoeffer oder die Mitglieder der Weißen Rose hätten nie ihre menschliche Größe entwickeln können, wenn es die Nationalsozialisten nicht gegeben hätte ... Ohne das Böse in der Welt wäre das Gute als Gutes nicht erkennbar, es erschiene uns so wertlos, wie Gold uns wertlos erschiene, wenn alle Gebirge der Welt aus Gold bestünden ... Das sind Gedanken der Theodizee, also der Rechtfertigung Gottes, der das Böse zuließ.

Diese Position 3 gefällt mir persönlich von allen sechs Erklärungen (die Positionen vier bis sechs werde ich noch darstellen) am besten. Aber ich muß etwas hinzufügen, etwas postulieren. Wenn Gott um der herrlichen Geschöpfe willen, die ihre Freiheit richtig zu verwenden wissen, das unsägliche, unendliche Leid von Millionen und Milliarden Menschen zugelassen hätte, dann wäre der Preis zu hoch. Ein einziges mißhandeltes Kind wäre ein zu hoher Preis (Iwan Karamasow!). Zu postulieren ist also ein gerechter Ausgleich, zu postulieren ist irgendein Jenseits, irgendeine Form von Unsterblichkeit. Jenseits und Unsterblichkeit können wir uns nicht vorstellen, können wir nicht begreifen, aber wir müssen etwas in dieser Art postulieren. Der griechische Dramatiker Sophokles scheint ähnlich zu denken: Er läßt seinen Ödipus, der, schuldlos, unermeßliches Leid erdulden mußte, in der Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ auf wunderbare Weise entrückt werden, offensichtlich in die unterirdischen Gefilde der Seligen. Ein gerechter Gott entschädigt ihn für alles Leid!

Ich komme jetzt zu den letzten drei Positionen, die ich ablehne; es sind zwei philosophische und eine naturwissenschaftliche, psychologische.

Der radikale Pessimismus Schopenhauers

Innerstes Wesen der Welt und deren Urgrund ist nicht das Gute (davon ist in der Welt nichts zu spüren), sondern eine Erscheinung, die notwendig zum Übel, zum Leid, zum Bösen führt: ein dumpfes, unstillbares Begehren, ein dunkler Drang, ein blinder Wille. Das in zahllosen Individuen wirkende grenzenlose Begehren führt unweigerlich zu Konflikten und damit auch zum Bösen, da sich jeder Individualwille ohne Rücksicht auf andere durchsetzen will. Die notwendig in Erscheinung tretende Freude am Leid fremder Menschen, die lustvoll genossene Grausamkeit erklärt Schopenhauer in seinem Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ so: „Wenn nun ein Mensch von einem überaus heftigen Willensdrange erfüllt ist, mit brennender Gier Alles zusammenfassen möchte, um den Durst des Egoismus zu kühlen, und dabei, wie es nothwendig ist, erfahren muss, dass alle Befriedigung nur scheinbar ist, das Erlangte nie leistet, was das Begehrte versprach, nämlich endliche Stillung des grimmigen Willensdranges“, dann entsteht in ihm schließlich eine entsetzliche innere Leere, eine heillose Qual, ein unheilbarer Schmerz; diesen Schmerz versucht er zu lindern durch den Anblick fremden Leidens, der ihm Erleichterung verschafft. „Fremdes Leiden wird ihm jetzt Zweck an sich, ist ihm ein Anblick, an dem er sich weidet: und so entsteht die Erscheinung der eigentlichen Grausamkeit, des Blutdurstes, welche die Geschichte so oft sehn lässt, in den Neronen und Domitianen …“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, erster Band, München bei Georg Müller 1912, Seite 439 f.).

Diese Position Schopenhauers lehne ich aus zwei Gründen ab.

Erstens: es ist schwer, sich vorzustellen, daß der letzte Urgrund der Welt nichts anderes sein soll als ein dunkler Drang, ein blinder Wille, ein unstillbares Begehren. Da halte ich es lieber mit Albert Einstein, der einmal das Folgende geschrieben hat: Die Religiosität des Forschers „ liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“ (Albert Einstein: Zeiten des Staunens, hrsg. von Harald Schützeichel, Freiburg im Breisgau 1993, Seite 64).

Ich lehne Schopenhauers Pessimismus zweitens deshalb ab, weil dieser extreme Pessimismus nicht berechtigt ist. Jeder, der die Welt unvoreingenommen betrachtet, sieht nicht nur die gewaltige Menge des Bösen, er sieht auch viel Gutes: Mut und Zivilcourage, Hilfsbereitschaft (denken Sie nur an die Höhlenrettung aus den Tiefen des Untersberges oder an die vielen freiwilligen Helfer bei Überschwemmungen), Treue, Dankbarkeit, Opferbereitschaft und Liebe, die so stark ist, daß sie den Tod in Kauf nimmt... Wertvoll und wichtig aber ist Schopenhauers Hinweis auf das Wesen des bösen Menschen: er sei eine gequälte, getriebene, unglückliche Kreatur. Der Schluß meines Vortrags, wenn ich ein paar Bösewichte aus der Literatur vorstelle, wird Schopenhauer bestätigen.

Die Position des radikalen ethischen Relativismus

Gut und Böse, das seien Begriffe, die objektiv nicht in der Weise bestimmt werden könnten, daß sie Geltung hätten für alle Zeiten und Kulturen. Was bei den einen als verwerflich, ungerecht, böse angesehen werde, das sei für die anderen gut und lobenswert. Es existiere also, genau genommen, kein Gut und kein Böse.

Diese Auffassung ist falsch. Vergleichen wir die Vorstellungen der größten Philosophen und Schriftsteller aller Zeiten und aller Völker bezüglich der Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einen guten und einen bösen Menschen charakterisieren, dann ist die Übereinstimmung überwältigend. Und nicht nur bei den Philosophen, auch bei den einfachen Menschen aller Zeiten und Völker dürfte eine große Übereinstimmung herrschen: schreiende Undankbarkeit einem Wohltäter gegenüber, brutalen Egoismus, der den eigenen Freunden schadet und über Leichen geht, sadistische Freude am Quälen und vieles andere mehr empfinden wohl alle Menschen, unabhängig von Zeit und Kultur, als etwas Böses und Gemeines. Ich höre jetzt den folgenden, zunächst durchaus berechtigten Einwand: Aber sehen wir nicht auch große Unterschiede? Wird nicht in manchen Kulturen das, was wir für böse halten, geradezu als heilige Pflicht angesehen: Rache, Ehrenmorde, schwerste Strafen für sogenannte Gotteslästerung und Häresie, Hexenverfolgung, Steinigung für Ehebruch? Oder denken wir an die Sklaverei (Menschen gelten da als Sachen, die man kaufen und wegwerfen kann), denken wir an die untergeordnete Stellung der Frau in manchen Kulturen!

Meine Antwort lautet: Das sind teilweise klare Zeitgeist-Verirrungen (so etwas gibt es, auch heute!) und teilweise Erscheinungen, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende gehalten haben und eine sehr dunkle, zu überwindende Seite der menschlichen Natur zum Ausdruck bringen. Niemand kann leugnen, daß in der Geschichte der Menschheit auch ein objektiv meßbarer Fortschritt festzustellen ist, ein Erkenntnisgewinn, den wir verschiedenen Zeiten der Aufklärung verdanken! Gesellschaften, in denen es keine Rachepflicht gibt, keine Ehrenmorde, keine Sklaverei, keine Strafen für Abfall vom Glauben, keine Hexenverfolgungen, Gesellschaften, in denen die Frau die ihr gebührende Gleichstellung mit dem Mann erreicht hat, sind objektiv gesehen dem Guten nähergekommen, haben, objektiv gesehen, Böses ausgemerzt. In ihrer ganzen Absurdität und Lächerlichkeit wird die Position des radikalen Relativismus deutlich, wenn man ihn konsequent weiterdenkt: Da wäre dann kein erkennbarer Qualitätsunterschied mehr zwischen der „Ethik“ eines Hitler, eines Stalin, Mao Tse tung, Pol Pot auf der einen Seite und den Auffassungen eines Nelson Mandela, eines Martin Luther King, eines Gandhi, eines Albert Schweitzer auf der anderen Seite! Da wäre kein objektiv bestimmbarer Qualitätsunterschied zwischen der „Philosophie“ der Nationalsozialisten, wie sie in ihrer ganzen Erbärmlichkeit in Hitlers „Mein Kampf“ und in Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ offenbar wird, und der Philosophie eines Platon, eines Aristoteles, eines Kant... Der radikale ethische Relativismus, der das Gute und das Böse im Nebel der Undefinierbarkeit verschwinden läßt, ist nicht haltbar!

Die Position des radikalen, konsequenten Determinismus und Positivismus

„Das Böse“ existiert nicht (so wenig wie „das Gute“, „Gott“, ein von der Materie unabhängiger Geist und die Unsterblichkeit der Seele), weil alles Metaphysische einschließlich des Glaubens an die Existenz von so etwas wie Schuld, Sünde, Sittengesetz, Stimme des Gewissens, Freiheit der moralischen Entscheidung usw. auf reiner Illusion, auf bloßem Wunschdenken beruht. Der Mensch erträgt die brutale Realität nicht, in der wir leben, und so erfindet er zu seinem Trost und seiner Erbauung eine andere, angeblich dahinterliegende eigentliche Realität. Aber es gibt nur eine einzige Realität: die Materie und die ihr immanenten Gesetze. Das Böse existiert nur in der Form des „sogenannten Bösen“; denn der Mensch hat keinen freien Willen. Er ist ganz und gar determiniert durch Erbanlagen, Umwelteinflüsse, psychische Mechanismen. Er ist in jedem Augenblick seines Lebens determiniert durch die chemisch-physikalischen Vorgänge in seinem Gehirn, durch den Aggregatzustand seines Gehirns, durch das Gewicht seiner Motive. Die stärkeren, schwereren Motive ziehen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit die Waagschale der Entscheidungen nach unten. Widersetzt sich jemand dem Befehl eines Tyrannen, dann kann er nicht anders. Er ist von Jugend auf so geprägt, von bestimmten Wertvorstellungen so durchdrungen, von seiner Veranlagung her so stur und unbeugsam, daß er die Einweisung in ein Konzentrationslager in Kauf nimmt. Wird er zum Helfershelfer eines schlimmen Diktators, dann kann auch e r nicht anders. Er hat von Natur aus ein gewisses Potential an Aggressivität, die er im Dienst eines Diktators ausleben kann, er ist dazu noch dumm, fällt auf die Propaganda und Demagogie der Machthaber herein und glaubt an ihre Ideologie. Bei der schweigenden Mehrheit ist die Angst vor Bestrafung und allen möglichen persönlichen Nachteilen so stark, daß Widerstand nicht in Frage kommt.

Scheußliche Untaten, die wir so gemeinhin und unwissenschaftlich emotional als böse und als Verbrechen bezeichnen, sind nach dieser Lehre zurückzuführen auf das Zusammenwirken der verschiedensten Faktoren: ungünstige Erbanlagen, Besonderheiten im Gehirn, traumatische Kindheitserfahrungen; Enttäuschungen und Fehlschläge im Privatleben und im Beruf; Minderwertigkeitskomplexe, die kompensiert werden müssen durch Machterlebnisse usw. usw. So wie das Zusammenwirken bestimmter Faktoren in der Natur mit Notwendigkeit einen Wirbelsturm oder einen Tsunami erzeugt, so erzeugt das Zusammenwirken von Faktoren, wie ich sie eben aufgezählt habe, bei einem Menschen das, was wir böse nennen. Der Täter ist zu 100 Prozent determiniert. Er handelt so, wie er handeln muß. Und wenn er nichts dafür kann, dann dürfen wir ihn nicht böse nennen. Das, was Philosophen und Theologen böse nennen, ist lediglich eine unschöne Erscheinung, die bei den Menschen halt nun einmal immer wieder vorkommt, die aber nichts zu tun hat mit einem Verstoß gegen ein uns verpflichtendes, irgendwie metaphysisch begründetes Sittengesetz oder mit einem Verstoß gegen angeblich göttliche Gebote. Gott gibt es nicht. Ein uns verpflichtendes Sittengesetz gibt es nicht. Lauter Erfindungen und Wunschträume! Es gibt, um es flapsig, aber zutreffend zu formulieren, Fehlzündungen im Gehirn, aber keinen sündhaften Verstoß gegen ein Sittengesetz. Alles ist Naturkausalität. Die Gewaltausübung von Menschen an Menschen - das ist evolutionäres Erbe, viele Millionen Jahre alt: die Menschen zerfallen in Gruppen, von denen jede ein Wir-Gefühl entwickelt. Die jeweils anderen Gruppen, das sind dann eben die „anderen“, die für die „Unseren“ eine Gefahr und Bedrohung darstellen, weil sie den „Unseren“ alles mögliche streitig machen, z.B. das Territorium oder die Macht im Staat. Wir sind Sunniten, die anderen sind Schiiten. Das Kämpfen und Töten ist durch die Existenz der Gruppen vorprogrammiert. Und auch innerhalb der Gruppen treten mit naturgesetzlicher Notwendigkeit immer wieder Spannungen auf, die sich fürchterlich entladen können. (Übrigens: auch im Tierreich gibt es Kriege: Ratten führen Kriege gegen Ratten, Schimpansen gegen Schimpansen.)

Vertreter des radikalen, jede Willensfreiheit leugnenden Determinismus sind mit Sicherheit bei weitem nicht alle, aber wahrscheinlich doch einige moderne Naturwissenschaftler, Gehirnforscher und Psychologen.

Die sehr schwache Position des radikalen Relativismus (Erklärung 5) zu widerlegen fiel mir nicht schwer. Ich konnte sie zwar nicht mit einem mathematischen Beweis oder einem physikalischen Experiment ad absurdum führen, aber die Wahrheit liegt auf der Hand. Einen Hitler, einen Stalin, einen Pol Pot darf man nicht auf dieselbe Stufe stellen wie einen Albert Schweitzer, einen Martin Luther King, einen Nelson Mandela. Das sieht jeder sofort ein. Große Schwierigkeiten habe ich hingegen bei der Widerlegung des radikalen Determinismus.

Wenn jemand die unsinnige Behauptung aufstellte, die Siedetemperatur des Wassers liege auf der Zugspitze höher als unten in Garmisch, dann könnte ich ihm sofort das Gegenteil mit genauen und wiederholten Messungen ad oculos demonstrieren. Wenn aber jemand behauptete, der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un, dieses seltsame, fette kleine Monster, habe solche Anlagen von der Natur mitbekommen, sei so geprägt worden, sein Gehirnzustand sei in einer bestimmten Situation so beschaffen gewesen, daß er seinen angeheirateten Onkel aus bestimmten sehr starken Motiven habe töten müssen, Kim habe nicht anders handeln können und ihn treffe deshalb keine persönliche Schuld und man dürfe ihn deshalb nicht böse nennen, wenn einer das behauptete, dann wäre ich beim Versuch einer Widerlegung restlos überfordert. Ich kann es nicht widerlegen! Die Position des radikalen Determinismus ist also sehr stark. Trotzdem lehne ich sie ab! Ich lehne den radikalen Determinismus ab, weil ich der felsenfesten Überzeugung bin, daß „sittliche Verfehlung“, „Schuld“, „Verantwortung“, „Gewissen“ keine leeren Worte sind, die auf der bloßen Illusion einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen Willensfreiheit beruhen.

Es wäre natürlich völlig verfehlt und verriete einen schwachen Realitätssinn, eine geringe Menschenkenntnis, wenn ich ins entgegengesetzte Extrem verfiele und behauptete, jeder Mensch könne in absoluter, totaler Freiheit entscheiden, handeln, sich Ziele setzen, seinen eigenen Charakter formen. Daß Erbanlagen, Prägungen, frühkindliche Erfahrungen, innere Mechanismen und Zwänge, von außen einwirkende Faktoren der verschiedensten Art einen großen determinierenden Einfluß ausüben, liegt auf der Hand. Die Summe der von der Gehirnforschung, der Biologie, Psychologie, Soziologie entdeckten determinierenden Faktoren ist so gewaltig, daß für freie Willensentscheidung fast kein Spielraum mehr übrigzubleiben scheint. Trotzdem halte ich an der Überzeugung fest, daß es einen solchen Spielraum gibt! Lassen Sie mich das Verhältnis von Freiheit und Determination mit einem Bild illustrieren (die Idee stammt von Ortega y Gasset): Ein Fluß mäandriert in einem sehr engen Tal zwischen zwei hohen Felsufern. Die Felswände beschränken die Freiheit des Flusses. Die Möglichkeit, sich zu entfalten, hat er nur im schmalen Raum zwischen den beiden Wänden. Aber er kann ganz allmählich (steter Tropfen höhlt den Stein!) und vor allem bei Hochwasser die Felswände unterspülen, kann sein Bett und sein Tal erweitern. Ebenso verhält es sich mit der menschlichen Freiheit: Wir haben einen gewissen, vielleicht nur winzigen Freiheitsspielraum zwischen den Felswänden der Determination; aber wir sind imstande, diese Felsbarrieren, wenn auch nur zentimeterweise, abzutragen, zurückzudrängen und dadurch den Spielraum unseres freien Handelns zu vergrößern.

Ich darf zuversichtlich an diesen Spielraum der Freiheit glauben, aus zwei Gründen:

Erstens: Auch die radikalen Deterministen können ihre Position nicht beweisen. Kein Biologe, kein Gehirnforscher, kein Physiker, kein Chemiker, kein Psychologe, kein Soziologe ist auch nur im entferntesten in der Lage, mit der Stringenz einer wissenschaftlichen, jeden Einwand ausschließenden lückenlosen Gedankenführung darzutun, daß all das, was große Theologen und Philosophen Willensfreiheit, Sünde, Schuld, sittliche Verfehlung, Böses genannt haben, in dem von ihnen gemeinten Sinne nicht existiere, und zwar deshalb nicht existiere, weil der Mensch in jedem Augenblick seines Daseins nie anders fühlen, denken und handeln könne als so, wie er tatsächlich fühle, denke und handle.

Nehmen wir als Beispiel einen Gehirnforscher, der sich zum radikalen Determinismus bekennt. Es ist mir unbegreiflich, wie er es wagen kann, mit dem Aplomb eines sicher Wissenden zu behaupten, die Freiheit der sittlichen Entscheidung sei reine Illusion. Denn er ist weit davon entfernt, die selbstverständlichsten Voraussetzungen zu erfüllen, die er erfüllen muß, wenn er eine für die menschliche Ethik so zentrale und grundlegende Aussage treffen will. Zwar hat er beachtliches Wissen über das Gehirn angesammelt, aber muß er nicht das letzte Geheimnis dieses unendlich komplizierten Organs gelüftet haben, bevor er sich zu solchen Aussagen versteigt? Muß er nicht das Ich-Bewußtsein erklären können? Muß er nicht erklären können, wie die im Gehirn ablaufenden chemisch-physikalischen Prozesse so wunderbare und außerordentliche Phänomene erzeugen wie philosophisches Nachdenken über den Sinn des Lebens oder den Drang, Erkenntnisse um ihrer selbst willen zu gewinnen (z.B. über den Untergang der Dinosaurier)? Muß er nicht erklären können, wie chemisch-physikalische Prozesse, die Naturgesetzen oder dem Zufall gehorchen, es schaffen, Mozarts Requiem, Beethovens Neunte, Schuberts Quintett in C, Tolstois Krieg und Frieden, Goethes Faust hervorzubringen? Das kann er natürlich nicht, der gute Gehirnforscher! Da ist noch ein ganz großes, wahrscheinlich nie erklärbares Geheimnis! Mehr noch: Es genügt nicht, daß unser Gehirnforscher dieses letzte Geheimnis des Gehirns und seiner obersten Leitung lüftet, er muß, als Voraussetzung dafür, auch das letzte Wesen der Materie erfaßt und das Problem des Ver- hältnisses der Materie zu dem, was wir Geist und Vernunft nennen, gelöst haben. Von der Beant- wortung all dieser Fragen ist er aber Lichtjahre entfernt! Er soll also bitte bescheiden sein und nicht mit kühnen Behauptungen in Bereiche vorstoßen, die seiner Wissenschaft nicht zugänglich sind. Ein Gehirnforscher, der sich einbildet, mit Hilfe seiner Gehirnforschung den Spielraum der menschlichen Freiheit, Schuld, Gott, Sittengesetz als Illusion erweisen zu können, kommt mir vor wie jemand, der von 20 000 Versen eines in uralter Sprache überlieferten Epos nur hundert Verse schlecht und recht übersetzen kann, aber die Frechheit besitzt, zu behaupten, er sei in der Lage, das Gesamtepos richtig zu interpretieren und alle Fragen zu beantworten, die das Verständnis des Gesamtsinnes voraussetzen.

Zweitens: Ich bin nicht bereit, um ein konkretes Beispiel zu nennen, den Holocaust nicht als das anzusehen, was er ist: eines der scheußlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, ein Verbre- chen, das verbunden ist mit unsagbarer menschlicher Schuld, eine Eruption des wirklichen Bösen, nicht des sogenannten Bösen. Ich bin nicht bereit, die unsäglichen Greueltaten der Nationalsozialis- ten im Sinne des radikalen Determinismus zu interpretieren lediglich als eine sozusagen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit hereingebrochene Katastrophe, an der niemand persönliche Schuld trage, Schuld im Sinne der großen Theologen und Philosophen. Denn radikale Deterministen müssen, wenn sie konsequent sein wollen, den Holocaust folgendermaßen erklären: So wie es manchmal Jahrhundertüberschwemmungen oder Monsterwellen gebe, die aus dem sehr seltenen Zusammentreffen verschiedener Faktoren mit naturgesetzlicher Notwendigkeit entstünden, so sei auch die Holocaust-Katastrophe lediglich die unausweichliche, mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintretende Folge des Zusammenwirkens bestimmter Faktoren gewesen: da gab es eine ganze Reihe von geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, deren Zusammentreffen optimale Voraussetzungen schuf für die Machtergreifung eines Diktators; genau in diesem Zeitfenster war eine falsche, aber von vielen Leuten für wahr gehaltene Rassentheorie stark verbreitet, und gleichzeitig trat ein für die Diktator-Rolle geradezu prädestinierter Mann auf, ein fanatischer, rhetorisch hochbegabter Demagoge mit immenser Ausstrahlung, dessen Charakter- und Gehirnstruktur, auf die anderen Faktoren reagierend, unweigerlich zu seinen Eroberungsplänen und seinem radikalen, auf Vernichtung der Juden abzielenden Antisemitismus führen mußte; auch Zufälle spielten eine wichtige Rolle in der Kausalkette der Ereignisse: Hitler überlebte, wie durch ein Wunder, den Ersten Weltkrieg und viele Anschläge. Das Verhalten seiner zahlreichen Helfer und Anhänger, ohne die seine Taten nicht möglich gewesen wären, war zu hundert Prozent determiniert: ihre eingeschränkte Urteilsfähigkeit erzeugte blinde Begeisterung und Kadavergehorsam, ihre aggressiven Neigungen (Aggression ist eine der grundlegenden Eigenschaften der menschlichen Natur!) wurden durch die Ideologie gerechtfertigt und deshalb zwangsläufig aktiviert; auch Leute wie Himmler waren restlos determiniert durch ihren Charakter, durch ihr Machtstreben... Fazit: Keiner von denen, die am Holocaust beteiligt gewesen seien (von Hitler bis zum letzten KZ-Aufseher), habe anders handeln können als so, wie er tatsächlich gehandelt habe. Böses, Schuld, sittliche Verfehlung im Sinne der Theologen und Philosophen sei im Holocaust nicht zu entdecken. Das Unheil habe als Folge des Zusammenspiels vieler Faktoren und einiger Zufälle eintreten müssen.

Da eine solche Auffassung für mich unannehmbar ist, da der radikale Determinismus ebensowenig bewiesen werden kann wie die Willensfreiheit, darf ich zuversichtlich und guten Mutes meiner Grundüberzeugung treu bleiben:

Das wirklich Böse existiert, wie immer es letztlich zu erklären ist. Auch wenn ich nicht leugnen will, daß gewisse menschliche Scheusale und Ungeheuer tatsächlich restlos determiniert sein müssen (z. B. durch abartige Gehirnstrukturen im Zusammenwirken mit anderen Faktoren), so darf ich doch wohl annehmen, daß die allermeisten Verbrecher und bösartigen Menschen für ihre Taten wenigstens zu einem Teil verantwortlich sind und deshalb schwere sittliche Schuld auf sich laden. Und was die anerkanntermaßen guten und edlen Menschen betrifft: Ihre Handlungen beweisen immer wieder, daß „Willensfreiheit“ kein leeres Wort sein kann, keine Illusion! Wenn es nämlich jemandem gelingt, seine Vernunfterkenntnis („das ist meine Pflicht, das ist ein Erfordernis des Anstands, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit...“) gegen innere Widerstände (Bequemlichkeit, Hemmungen, Ängste) und gegen äußere Widerstände (Verbote, Drohungen, Geldnot, bürokratische Hindernisse...) mit Willenskraft und Selbstverleugnung durchzusetzen, dann ist das eine achtungsgebietende, großartige Leistung, eine Leistung, die man nicht kleinreden oder herabwürdigen darf, indem man sagt: der kann ja nicht anders, der muß ja so handeln!

Das waren die sechs Erklärungen des Bösen, seiner Existenz bzw. Nichtexistenz, und meine Auseinandersetzung mit ihnen.

Fünf Thesen zum Bösen

Ich werde jetzt, zusammenfassend und ergänzend, fünf Thesen aufstellen, die das Böse definieren und beschreiben. Es sind keine neuen Erkenntnisse, sondern eigentlich nur Selbstverständlichkeiten, die jedem sofort einleuchten, der sich ein nüchternes, wilden Spekulationen abholdes Urteilsvermögen bewahrt hat.

Erste These

Ein Vulkan ist nicht böse, lädt keine Schuld auf sich, ebensowenig ein Erdbeben oder ein Wirbelsturm oder ein Tsunami. Das Böse gehört zur Welt des Menschen und existiert in Form von bösen Gesinnungen und bösen Handlungen, von sittlichen Verfehlungen; denn der Mensch hat einen Spielraum der Freiheit, der ihn befähigt, die in ihm steckenden destruktiven Neigungen wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Nicht glauben kann ich an ein personifiziertes Böses, an einen Dämon oder Teufel, der irgendwo lauert oder in der Welt umherschleicht und die Menschen verführt. Der „Dämon“ steckt in jedem Menschen. Wir müssen ihn beherrschen. Und wenn wir belastet sind von einem evolutionären Erbe, dann müssen wir uns dieses Erbe bewußt machen und es, soweit möglich, überwinden.

Zweite These

Die Wirkung des Bösen läßt sich leicht beschreiben: Sie ist der Wirkung des Guten (Heilung, Rettung, Beförderung von Wohlergehen, Harmonie und Glück...) entgegengesetzt. Es handelt sich immer um Beschädigung, Verletzung, Zerstörung, Vernichtung des Glücks, des guten Rufes, des Besitzes, der Gesundheit, des Lebens anderer Menschen. Das zerstörerische Böse untergräbt im schlimmsten Fall die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft, die Werte und Maximen des Zusammenlebens und zielt ab auf Verführung und Fehlleitung der Jugend. Es vermag Staaten und Völker ins Verderben zu stürzen. Es beschädigt auch die Natur, das Klima, die Tiere und Pflanzen. Letzteres ist nicht nur an und für sich verwerflich, es schlägt auf die Menschen zurück! (Mit „Zerstörung“ meine ich natürlich nicht die folgende Art der Zerstörung: Jemand muß eine häßliche alte Hütte abreißen, damit er an ihre Stelle ein schönes neues Haus setzen kann.)

Dritte These

Die Motive und Ursachen für schuldhaftes und böses menschliches Handeln sind vielfältig und in vielfältiger Weise kombiniert. Sie lassen sich aber unter wenige große Überschriften bringen. Dazu werde ich im dritten, letzten Abschnitt meines Referats Genaueres sagen. Die drei literarischen Bösewichte, die ich ganz zum Schluß vorstelle, werden noch weitergehende, vertiefende Erkenntnisse bringen.

Vierte These

So wie Krebszellen verschiedene Grade der Malignität aufweisen, so kann man böse Handlungen (je nach Ursache und Motiv) verschiedenen Malignitätsgraden zuordnen. Wenn jemand aus Wut (die vielleicht sogar berechtigt sein kann) im Zustand der Betrunkenheit einen anderen Menschen umbringt, dann ist das zweifellos eine sehr schlimme Tat, die man als böse bezeichnen muß. Wenn aber Nazioffiziere (ich las das in einer russischen Erzählung) sich einen Spaß daraus machen, als Höhepunkt eines lustigen Herrenabends einem Judenjungen so lange Whisky einzuflößen, bis er stirbt, dann ist das eine ganz andere Dimension, ein ganz anderer, wohl kaum mehr zu übertreffender Malignitätsgrad des Bösen.

Fünfte These

Das Böse ist ansteckend und fruchtbar! Es ist wie ein Krebsgeschwür, kann Metastasen bilden, kann sich ausbreiten, wird nachgeahmt, denn es hat Ausstrahlungs- und Verführungskraft (denken Sie an den IS!); es pflanzt sich, in Form von schlimmen Verhaltensweisen, von irren Vorurteilen, von Feindschaften zwischen Religionen, Familien und Völkern über Generationen hin fort.

Ich wende mich jetzt den Malignitätsgraden des Bösen zu. Dieser Abschnitt enthält gleichzeitig einen Überblick über alle Motive und Ursachen des bösen Handelns, die ich finden konnte.

Die sechs Malignitätsgrade des Bösen

Zuerst die beiden das Böse ermöglichenden Vorstufen, steigernd angeordnet (sie sind ein wesentlicher Beitrag zur Ermöglichung der Gesamtsumme des Bösen in der Welt)

Vorstufe 1

Unfreiwillige, gedankenlose Unterstützung des nicht erkannten bösen Handelns anderer (man kauft z.B. Produkte von Firmen oder Konzernen, deren Gewinne auf der gnadenlosen Ausbeutung und Unterbezahlung armer, wehrloser Menschen beruhen), Mitwirkung an der Zerstörung wertvoller Schätze in Natur und Umwelt aus purer Dummheit oder Kurzsichtigkeit. Was aber noch viel schlimmer ist: Die gedankenlose Unterstützung gefährlicher Zeittendenzen und Ideologien kann zu Katastrophen riesigen Ausmaßes führen! Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die Verbrechen eines Hitler, eines Stalin wären nicht möglich gewesen, wenn es neben der schweren Schuld einzelner Menschen nicht die Dummheit und Kurzsichtigkeit, die blinde Begeisterung und den blinden Gehorsam riesiger Menschenmassen gegeben hätte. Jeder einzelne urteilsunfähige Mensch, der hereinfällt auf die Propaganda-Rhetorik übler Demagogen, wirkt mit an der Ermöglichung des Bösen in der Welt, allerdings kaum wahrnehmbar; denn die Dummheit eines Einzelnen ist auf der Waagschale der Weltgeschichte nur eine winzig kleine Feder. Wenn aber Millionen Menschen zur selben Zeit in derselben Weise falsch urteilen und handeln, dann summieren sich die winzigen Federgewichte zu einem gigantischen Gesamtgewicht, das zu entsetzlichen Kriegen führen kann mit Millionen von Toten.

Vorstufe 2

Duldung des erkannten Bösen (aus Bequemlichkeit, Feigheit und Angst, Gleichgültigkeit, mangelnder Zivilcourage): Kein Protest, kein Einschreiten, kein Widerstand! Die beste Hilfe, die sich ein diktatorisches Regime wünschen kann, ist das apathische Schweigen der Mehrheit. Angenommen, ich lese im Jahr 1933 Hitlers „Mein Kampf“, erkenne klar die Gefährlichkeit des Mannes, sage aber nichts, weil ich mir Unannehmlichkeiten ersparen will, dann mache ich mich bereits in gewisser Weise schuldig. Angenommen, ich gehöre zu einer Religionsgemeinschaft und meine Glaubensgenossen begehen schlimme Verbrechen, die sie mit religiösen Gründen rechtfertigen, dann muß ich reden, demonstrieren, mich einmischen... Tue ich es nicht, mache ich mich in gewisser Weise schuldig.

Die sechs Ebenen (steigernd angeordnet) des Bösen selbst:

Ebene 1

Hierher gehören die kleinen Gemeinheiten und Bosheiten, die taktlosen und zutiefst verletzenden und demütigenden Äußerungen und Gesten, die sich fast jeder irgendwann einmal leistet. Eheleute oder Nachbarn oder Arbeitskollegen können sich auf diese Weise das Leben zur Hölle machen; Schulklassen ärgern bisweilen allzu gutmütige Lehrer bis aufs Blut, quälen sie gnadenlos, bringen sie zur Verzweiflung. Das sind lauter Dinge, die nicht im Strafgesetzbuch stehen, die aber das Böse sozusagen aufblitzen lassen. In einem alten Lesebuch der 6. Klasse stand eine schöne Geschichte des tschechischen Schriftstellers Karel Ĉapek (1890 - 1938) mit dem Titel „Der Mordversuch“. Da sitzt ein Herr Tomsa abends in seinem Zimmer am Fenster, und plötzlich fällt ein Schuß durchs splitternde Glas, der ihn zum Glück nicht trifft. Natürlich geht Tomsa sofort zur Polizei. Diese möchte von ihm wissen, ob jemand wütend auf ihn sei. Herr Tomsa denkt eine ganze Nacht lang nach, durchforscht sein stilles und braves Leben als Beamter und Junggeselle. Und da entdeckt er zu seinem großen Entsetzen so einiges von dem, was ich oben als kleine Gemeinheiten, Bosheiten und Taktlosigkeiten bezeichnet habe. Erst jetzt wird ihm bewußt, wie unschön, ja böse sein Verhalten in bestimmten Situationen war. Die Geschichte endet damit, daß Herr Tomsa am nächsten Morgen die Polizei ganz kleinlaut bittet, die Ermittlungen einzustellen. Es gebe so viele Leute, die ihn hassen könnten.

Ebene 2

Der Mensch läßt sich zu schlimmen Gewalttaten hinreißen von Affekten, die auf ihn einstürmen, ihn überwältigen, die zu beherrschen er nicht in der Lage ist. Er begeht die Untaten in wilder Erregung, „ohne oder nur mit wenig bewußter Steuerung“ (Herder-Lexikon der Psychologie). Sie resultieren aus plötzlichen Zorn- oder Haßausbrüchen, aus Eifersucht, aus sogenanntem „Frust“, aus sexuellen Triebwünschen, aus Rachedurst. Ein Mensch, der so etwas tut, muß noch lange kein wirklich böser Mensch sein, wenn man seine Gesamtpersönlichkeit betrachtet. Er bereut solche Taten, wenn er wieder klar denken kann.

Ebene 3

Die bösen Unrechtshandlungen werden als solche klar erkannt, trotzdem ganz bewußt und überlegt ausgeführt, und zwar deshalb, weil man entweder glaubt, gehorchen zu müssen (z.B. einem Diktator), und im Falle der Widersetzlichkeit Strafen oder sonstige persönliche Nachteile befürchtet, oder deshalb, weil man sich in einer schweren Notlage (z.B. Armut, Arbeitslosigkeit) befindet und keinen anderen Ausweg zu sehen glaubt, um zu einem menschen- würdigen Leben zu kommen. In Slums wohnende Jugendliche schließen sich also Banden an und begehen Morde und Raubüberfälle. Richter in einem totalitären Staat verurteilen Leute, die sie nicht verurteilen dürften, zu schweren Strafen. Die Nürnberger Rassengesetze werden befolgt auch von Leuten, die das abgrundtiefe Unrecht erkennen. Lehrer unterrichten eine hochgefährliche Ideologie, an die sie selber nicht glauben. Soldaten wirken bei Erschießungen und Vergeltungsaktionen mit.

Ebene 4

Die bösen Handlungen werden als solche klar erkannt, werden trotzdem bewußt und überlegt ausgeführt, diesmal nicht aus Angst oder Not wie bei Ebene 3, sie werden vielmehr von eiskalt planenden Unmenschen in Kauf genommen als Mittel zum Zweck. Die Opfer sind ihnen egal. Konkurrenten werden systematisch beseitigt. Man will einen maßlosen Ehrgeiz, eine maßlose Habgier, eine maßlose Herrschsucht befriedigen. Menschenhändler, Schleuserbanden, Mafiabosse; Waffenfabrikanten und Waffenhändler, denen es völlig gleichgültig ist, wer die Waffen bekommt, wenn nur das Geschäft stimmt; verbrecherische Pharmafirmen; Leute, die mit übelster Pornographie viel Geld verdienen, usw. usw. sind in diese Ebene einzuordnen.

Ebene 5

Man tut das Böse um des Bösen willen, das Böse selbst ist das Ziel und der Zweck. Man hat Freude daran, genießt die hemmungslose und bewußte Hingabe an schlimmste Triebwünsche und Instinkte, plant immer wieder neue Taten, schwelgt in Vorfreude, kennt keinerlei Gewissensbisse, genießt es, andere Menschen zu demütigen, zu quälen, zu vernichten ... So fühlen und handeln durch und durch verdorbene Menschen, menschliche Ungeheuer, Folterknechte, Aufseher in Konzentrationslagern, Leute wie Josef Mengele, Leute wie der dritte römische Kaiser Gaius Caligula. Seneca und Sueton erzählen Haarsträubendes von ihm! (Heute sieht man Caligula differenzierter; aber das tut jetzt nichts zur Sache.) Wenn Caligula speiste und sich entspannte, dann wurden vor seinen Augen peinliche Verhöre mit Folterungen durchgeführt, dann wurden Leute vor seinen Augen geköpft von einem Soldaten, der ein „artifex decollandi“ war, also ein Meister in der Kunst des Enthauptens. Offenbar empfand Caligula Folter und Hinrichtung als entspannungsfördernd und gleichzeitig appetitanregend. Bei einer öffentlichen Speisung hatte ein Sklave eine silberne Platte gestohlen. Auf Befehl Caligulas wurden ihm die Hände abgehackt und um den Hals gehängt, so daß sie auf seiner Brust baumelten. So führte man ihn durch die Reihen der Speisenden. Er trug ein Schild, auf dem der Grund für die Strafe zu lesen war. Caligula pflegte viele Leute aus nichtigem Anlaß, aus purer Willkür hinrichten zu lassen. Die alten Väter zwang er, bei der Hinrichtung der Söhne anwesend zu sein. Einmal ließ er einen jungen Mann töten, dessen Haartracht und dandyhafte Erscheinung seinen Unwillen erregt hatten. Den Vater lud er nach vollzogener Hinrichtung am selben Tag noch zu einem Gastmahl ein. Dort mußte sich der Vater, das war ausdrücklich befohlen, fröhlich und unbe- schwert benehmen. Und tatsächlich, der Vater gehorchte! Warum? Er hatte einen zweiten Sohn!

Anmerkung zu den Ebenen 3 bis 5: Selbstverständlich kann es sein, daß ein Bösewicht den drei Ebenen gleichzeitig angehört: Er befolgt einen Befehl, hat Nutzen davon und genießt seine Greueltat.

Ebene 6

Kann denn die Ebene 5 noch getoppt werden durch eine Ebene 6? Schlimmere Ungeheuer als die von Ebene 5 sind doch nicht vorstellbar! Aber angenommen, es gäbe eine Hölle mit Teufeln und Dämonen, eine Art höllische Denkfabrik, deren Forschungsauftrag darin bestünde, eine Methode zu entwickeln, wie man die Menschen am nachhaltigsten dazu bringen könnte, sich gegenseitig ein Maximum an Bösem, an Unrecht und Leid zuzufügen, dann müßte man die Taten der Ebene 6 beurteilen als das Resultat der brillanten Idee eines innovativen, ja genialen Erfinder- Teufels! In einer Festveranstaltung bekommt er den höchsten Unterwelt-Orden überreicht, denn er hat sich um die höllische Mission in einzigartiger Weise verdient gemacht! Es gelingt ihm nämlich, böse Handlungen der Menschen dadurch auszulösen, daß er das Böse als --- gut, ja als --- Pflicht erscheinen läßt! Der Erfolg ist überwältigend, die Zunahme von Morden, Greueltaten und Verbrechen ist beeindruckend, atemberaubend. Das nämlich redet dieser Teufel den Menschen ein:

„Der Menschheit ist eine wunderbare Aufgabe gestellt: Höherentwicklung zur Vollkommenheit! Minderwertige Rassen behindern die Menschheit auf ihrem Weg zum herrlichen Endziel der Weltgeschichte. Rottet diese Völker aus oder versklavt sie! Ihr habt das Recht der Natur auf eurer Seite. Die ewige Vorsehung will den Sieg des Besseren, Stärkeren! Achtet auf die Reinheit eures Blutes!

Kämpft für die Ausbreitung eurer Religion! Es ist Pflicht, Ungläubige zu bekehren oder, wenn sie sich nicht bekehren lassen, zu töten! Denn nur die Herrschaft der wahren Religion über die ganze Erde wird die Menschheit insgesamt zum Heil und zur Erlösung führen. Achtet auf die Reinheit eurer Religion! Bestraft Häretiker mit dem Tod! Bestraft Blasphemie mit dem Tod! Die Religion ist das Fundament der Gesellschaft. Blasphemie und Häresie untergraben dieses Fundament. Tötet auch Atheisten, die mit frechem, gotteslästerlichem Spott das in den Dreck ziehen und verhöhnen, was euch heilig ist! Die Gesellschaft kann und darf Feinde Gottes nicht tolerieren. Bestraft Apostasie mit dem Tod! Keine geringere Strafe kann den Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, den Abscheu vor jemandem, der seinen Bund mit Gott aufkündigt. Derjenige, der seinen Glauben verrät, ist noch verachtenswerter als ein fahnenflüchtiger Soldat, zerstört er doch das Gleichgewicht der ganzen Schöpfung!

Heilige Kriege sind eure Pflicht. Sie erweitern die Herrschaft Gottes und des Guten auf Erden. Gründet Gottesstaaten, in denen auf Verunglimpfung der Religion, auf Ehebruch und Homosexualität die Todesstrafe steht, in denen Theateraufführungen und Feste mit Tanz und Gesang als Verbrechen gelten! Nicht von der Vergnügungssucht und Lasterhaftigkeit verkommener, dem Irdischen verfallener Materialisten darf das Leben in euren Staaten geprägt sein, der Wille Gottes muß euch als Richtschnur dienen. Steil und mühsam ist der Pfad der Tugend! Ohne hilfreichen Zwang bewältigen ihn nur wenige! Maßnahmen der Inquisition, öffentliche Hinrichtungen, Enthauptungen, Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, Steinigungen sind unerläßlich und bringen dreifachen Nutzen: Sie vollstrecken eine verdiente Strafe, jagen heilsamen Schrecken ein, festigen und heben die Moral der Menschen guten Willens.

Terroranschläge sind eure Pflicht; es ist eure Pflicht, Schrecken und Furcht zu verbreiten, zu schockieren, Zeichen zu setzen, die Menschen aufzurütteln mit kraftvollen Stößen aus ihrem Tiefschlaf des Konsumrausches, der sittlichen Verkommenheit, des primitiven Hedonismus! Auf andere Weise wird es euch nie gelingen, eine bessere Welt zu schaffen, den Neuen Menschen und die von Gott gewollte Gesellschaft der paradiesischen Endzeit! Opferzahlen und unvermeidliche Kollateralschäden dürfen euch nicht beeindrucken! Wo gehobelt wird, fallen Späne!

Wenn euch die Obrigkeit befiehlt, für Vaterland. Religion, Freiheit, Gerechtigkeit, die Ehre der Nation in den Krieg zu ziehen, dann müßt ihr blind gehorchen, ohne nachzudenken; denn eure Obrigkeit kennt den Willen Gottes und der ewigen Vorsehung! Habt Vertrauen! Zieht in die Schlacht mit Begeisterung und Hurrah-Rufen! Reißt möglichst viele Feinde in den Tod, bevor ihr selber als Helden und Märtyrer sterbt! Für den wahren Patrioten, für den ehrenhaften Soldaten existiert nur eine einzige Alternative: Sieg oder Tod!

In Friedenszeiten ist es eure Pflicht, geheiligte Traditionen zu bewahren! Ihr Männer und Väter habt das Recht, junge Mädchen zu verheiraten, junge Mädchen zu beschneiden und eure Frauen zu beherrschen! Die Familie ist das höchste Gut eines jeden Menschen. Tötet diejenigen, die das höchste Gut beschädigen, der Familie Schande bringen und ihre Ehre beschmutzen. Wenn eine Tochter oder Schwester oder Nichte oder Enkelin vergewaltigt wird, hat sie sich schuldig gemacht! Sie hat die Begierde eines Mannes gereizt! Tötet sie!

Merkt euch zum Schluß: Auch in Friedenszeiten gilt, und zwar auf allen Gebieten: der Stärkere, Bessere, Intelligentere hat das natürliche Recht, auf Kosten der Schwachen und Dummen zu leben. Hört nicht auf die Humanitätsduselei und das Menschenrechtsgefasel von Theologen und Philosophen. Sie haben das Gesetz der Natur, das aristokratische Grundprinzip der Natur nicht begriffen.“

So etwa, nur noch viel raffinierter, suggestiver, könnte der Teufel gesprochen haben.

Zur Auswirkung seiner genialen Idee (das Böse ist gut, ist Pflicht, ist Wille Gottes oder der Natur) gehört übrigens noch einiges andere, ganz Alltägliches, scheinbar eher Harmloses (Beispiel: ein Zugschaffner hält es für seine Pflicht, ein Kind nachts bei Wind und Regen ins Freie zu setzen, weil es keine gültige Fahrkarte hat), auf diese Ebene gehören bürokratische Unmenschlichkeiten der verschiedensten Art. Sehr Aufschlußreiches dazu finden wir in Tolstois Roman Auferstehung!

Fazit: Das Böse der Ebene 6 dürfte den mit Abstand größten Schaden anrichten. Die meisten Täter sind arme, erbärmliche Verblendete, mißbrauchte Opfer irrsinniger Wahnvorstellungen und aberwitziger Ideologien, grauenhafter Traditionen, auch Opfer unheimlicher, dämonischer Führungsfiguren, die entweder selber verblendet sind oder die der Ebene 5 angehören. Hitlers „Mein Kampf“ könnte übrigens von meinem obengenannten fiktiven Teufel diktiert sein! Die Übereinstimmungen seiner Verführungsrede mit Hitlers „Philosophie“, die Sie sicher bemerkt haben, sind kein Zufall! Natürlich habe ich auch auf den IS angespielt. Zurück zu Hitler: Auf Seite 422 von „Mein Kampf“ (ich beziehe mich auf die 23. Auflage des Jahres 1933) deutet Hitler das folgende großartige Fernziel seines „Kampfes“ an: Eine höchste Rasse als Herrenvolk, die entstanden ist durch dauernde Höherzüchtung, beherrscht den ganzen Erdball, natürlich zum Segen der Menschheit, die nur unter solchen Herrschern die Probleme der Zukunft wird bewältigen können. Ganz ähnlich denken die Marxisten, Maoisten, Islamisten: Sie hielten bzw. halten ihre Greueltaten für sozusagen therapeutisch-operative Maßnahmen, die unerläßlich sind, wenn ein zukünftiger Idealstaat, ein Endzeit-Paradies verwirklicht werden soll. Wer an solche Ideologien allen Ernstes glaubt, ist ein Idiot. Solche Idioten gibt es wohl nicht wenige; denn die menschliche Dummheit ist grenzenlos. Für viele freilich dürfte die Ideologie nur ein Vorwand sein, ein Mäntelchen, das die eigentlichen Ziele rechtfertigt bzw. verdeckt: Bereicherung auf Kosten der Opfer, hemmungslose Ausübung von Macht, Sadismus, Verwirklichung von Mordphantasien.

Schluß

Zum Abschluß möchte ich drei böse Gestalten aus der Weltliteratur vorstellen: die Hexe aus dem Grimmschen Märchen Jorinde und Joringel, einen Schiffsoffizier namens John Claggart aus Melvilles Novelle Billy Budd, Stawrogin aus den Dämonen von Dostojewski.

Die Hexe des Grimmschen Märchens hat die Angewohnheit, wenn schöne junge Liebes- oder Brautpaare in die Nähe ihres Schlosses kommen, die Mädchen in Vögel zu verwandeln und in Körben gefangenzuhalten. Inzwischen hat sie 7000 verzauberte Mädchen in 7000 Körben. Zu Joringel sagt sie, als er sie kniefällig bittet, ihm seine Jorinde wiederzugeben, er werde sie nie wieder bekommen. Das Märchen hat ein Happyend wie alle Märchen. Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht um das Wesen der Hexe. Da findet man die verschiedensten, zum Teil weit hergeholten tiefenpsychologischen Interpretationen. Ich beschränke mich auf die folgende, für mich naheliegendste Interpretation: Die Hexe ist häßlich, einsam, starrsinnig, egozentrisch; sie ist unfähig, das Glück zu finden in der Verbindung mit einem anderen Menschen. Aber sie spürt das Glück dieser Liebespaare; und sie weiß, daß dieses hohe und wunderbare Glück für sie selber unerreichbar ist. Deshalb kann sie den Anblick junger Liebespaare nicht ertragen. Sie ist zerfressen von Neid. Sie zerstört das Glück dieser Paare und und weidet sich am Anblick von 7000 Körben mit 7000 gefangenen Vögeln. Das ganze Elend, die ganze Erbärmlichkeit des Bösen wird deutlich: Das Böse ist dazu verdammt, abgeschnitten von den Quellen des wahren Glücks eine lächerliche, auf Machtausübung beruhende Ersatzbefriedigung zu finden: hier in der sinnlosen Herrschaft über 7000 Vogel-Körbe. Das Herrschafts-Glück der bösen Hexe ist ein bitteres, nagendes, quälendes, aufreibendes Schattenbild des wahren Glücks.


Ich komme zu John Claggart, der mit der Hexe gewisse Parallelen aufweist, aber in einen noch tieferen Abgrund blicken läßt.

Melvilles Novelle Billy Budd (verfaßt gegen Ende des 19. Jahrhunderts) spielt auf einem englischen Kriegsschiff im Jahr 1797. Der gute Geist des Schiffs, von der ganzen Besatzung verehrt und geliebt, ist Billy Budd, ein junger Matrose von großer körperlicher Schönheit, gleichzeitig von kindlicher Unschuld, Reinheit und Arglosigkeit; er ist eine Art friedensstiftende Christusfigur, eine Verkörperung des Schönen und Guten, ein Adam vor dem Sündenfall. Diesen Matrosen will der Polizeioffizier des Schiffes, John Claggart, aus unerklärlichen Gründen vernichten. Durch Mittelsmänner will er ihn in eine Meuterei verwickeln (immerhin ist Billy Budd zwangsrekrutiert). Das mißlingt. Claggart wendet sich deshalb an den Kapitän und beschuldigt Billy Budd der Anstiftung zur Meuterei. Der Kapitän veranlaßt eine Gegenüberstellung in seiner Kajüte. Als John Claggart, Billy Budd mit einem hypnotisierenden Blick in die Augen schauend, seine Anschuldigung in Anwesenheit des Kapitäns wiederholt, ist Billy so im Tiefsten wie von einem Blitz getroffen, daß er nicht in der Lage ist, mit Worten zu reagieren. Er hat auch einen kleinen Sprachfehler, der in dieser Extremsituation eine verbale Reaktion unmöglich macht. Billy explodiert gewissermaßen körperlich und schlägt den Lügner und Verleumder mit der Faust zu Boden. Claggart stirbt. Der Kapitän aber muß Billy Budd, obwohl er von seiner Unschuld überzeugt ist, zum Tod verurteilen lassen. In Kriegszeiten, und dazu noch nach einer großen Meuterei auf einem anderen Schiff, ist das unumgänglich.

Warum will Claggart Billy vernichten? Die beiden haben auf dem Schiff nichts miteinander zu tun, leben in verschiedenen Sphären (Billy ist foretopman, Claggart arbeitet unten), sehen sich nur selten und zufällig. Es gibt auch keinen Annäherungsversuch, keine Werbung um Freundschaft von seiten Claggarts, die von Billy abgewiesen wird. Unerfüllbares homosexuelles Begehren dürfte für Claggarts Haß keine Rolle spielen. Ginge es nur darum, wäre die theologisch-philosophische Großartigkeit der Novelle zerstört. Die schöne körperliche Erscheinung des Matrosen ist für Claggart lediglich der Auslöser dafür, dass er dessen schöne Seele erkennt.

Claggart selber ist ein schöner Mann (nur eine seltsame Blässe und ein unnatürlich vorspringendes Kinn deuten auf einen seelischen Defekt), hoch intelligent; nach außen hin korrekt, höflich, beherrscht, pflichtbewußt und diensteifrig macht er den Eindruck, so würde man heute sagen, eines bestens integrierten und sozialisierten Menschen. Er kann sich verstellen! Innen schaut es ganz anders aus. So wie Billy kindliche Reinheit und Unschuld verkörpert, so ist Claggarts Charakter von Grund auf und von Natur aus schlecht und verdorben. Claggart leidet an „innate depravity“, an einer angeborenen Verkommenheit. In seiner Seele herrscht das Chaos der Irrationalität. Seine bösartigen Ziele sind die Ziele eines madman, eines Verrückten. Er verfolgt sie mit kühler Überlegung, eiskalter Berechnung. Welche Ziele das sind, erfährt der Leser nicht, mit Ausnahme des einen: Vernichtung Billy Budds. Melville deutet eine dunkle Vergangenheit Claggarts an. Er saß, so das Gerücht, wegen irgendeines geheimnisvollen Schwindels im Gefängnis, kam wohl von dort aufs Schiff (man war damals nicht wählerisch, wenn es darum ging, die Schiffsbesatzungen aufzufüllen) und machte auf dem Schiff Karriere. Claggart ist, das verrät uns der Verfasser, kein vulgärer Verbrecher der dumm-brutalen Sorte. Er gehört zur Creme de la Creme des Bösen. Einer, der zu dieser obersten Elite gehört, würde es beispielsweise für geschmacklos und primitiv halten, einen Gefangenen vor laufender Kamera zu köpfen und damit noch anzugeben.

Warum will Claggart Billy Budd vernichten? Claggart, zwar von Grund auf böse, aber intelligent und sensibel, kann das Reine, Unschuldige, Gute in Billy Budd erkennen und würdigen, spürt sozusagen den Charme des Guten. Manchmal blickt er auf Billy mit einem melancholischen Gesichtsausdruck, der „a touch of soft yearning“ in sich hat. Er würde gerne auch so sein, auch gut, rein, unschuldig. Aber er ist „powerless to be it“. Und so wird ihm das Gute zum Ärgernis, zum Gegenstand des Neides, Anlaß zur Verzweiflung. Ihm bleibt nichts anderes übrig, schreibt Melville, als sich auf sich selbst zurückzuziehen und wie der Skorpion, für den der Schöpfer allein verantwortlich ist, die ihm zugewiesene Rolle zu Ende zu spielen. Mehr noch, konsequenter und grundsätzlicher noch als die Hexe in Jorinde und Joringel (sie beneidet Liebespaare und zerstört deren Glück) zeigt Claggart die Tragik des Bösen: Das Böse möchte gut sein, kann es nicht, spürt Wut, Neid, Verzweiflung, verfolgt und zerstört deshalb das Gute. Eine Antwort auf die Frage nach dem Mysterium des Bösen (warum gibt es das Böse und wie kam es in die Welt?) will und kann natürlich auch Melville nicht geben.

Ich komme abschließend zu Stawrogin, der unheimlichsten Gestalt in Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ und einer der unheimlichsten Gestalten der gesamten Weltliteratur. In den „Dämonen“ geht es um eine Gruppe junger fanatischer Revolutionäre, die, im Geist des Nihilismus, Atheismus und Materialismus, die bestehende Gesellschaftsordnung samt ihrer Kultur und Religion mit allen nur denkbaren Mitteln der Subversion (Verleumdung, Bespitzelung, Brandanschläge, Verbreitung und Förderung von Lastern wie Trunkenheit...) in einer Orgie der Zerstörung vernichten wollen, um dann eine Terrorherrschaft auszuüben über ein Volk von lauter gleichen Sklaven: menschenverachtende Machtausübung als Selbstzweck. Stawrogin selber wird nicht tätig als Revolutionär, das übernimmt sein fanatischer Anhänger Pjotr Werchowenskij. Stawrogin liefert die Ideen! Wodurch unterscheidet sich Stawrogin von der Grimmschen Hexe, von Melvilles Claggart? Er ist unfähig, das Gute und das Schöne und das Glück, wie diese beiden es tun, wenigstens zu ahnen und zu ersehnen; er ist unfähig, an höhere Ziele zu glauben; er sieht keinen Wertunterschied zwischen dem, was man „gut“, und dem, was man „böse“ zu nennen pflegt. Als radikaler Skeptiker und Atheist ist er überzeugt von der absoluten Sinnlosigkeit der Welt und des menschlichen Lebens. Deshalb kann er sich für nichts begeistern; er leidet, schreibt Janko Lavrin, an einer entsetzlichen Indifferenz, an einer geistigen und moralischen Lähmung, er ist der am meisten entwurzelte von Dostojewskis Helden. Sie werden sich jetzt fragen, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, warum Stawrogin ein besonders schlimmer Bösewicht sein soll. Die Antwort lautet: Weil dieser schöne, scharfsinnige und gebildete Mann, der, wenn er nur will, alle Menschen bezaubern kann, ohne jede Hemmung, eiskalt und furchtlos und neugierig, überzeugt davon, daß alles erlaubt sei, mit Menschen und Ideen und mit sich selbst experimentiert. Warum experimentiert er? Weil auch ein Stawrogin den Reiz dessen, was als böse gilt, empfindet und weil ihm allein diese Experimente die sinnlose Öde seines Daseins erträglicher machen. Als junger Mann führt er ein ausschweifendes Leben in der tiefsten Unterwelt von St. Petersburg. Er inszeniert die verschiedensten gesellschaftlichen Skandale, erlaubt sich die unglaublichsten Frechheiten, z.B. diese: Ein Freund der Hauses, ein netter alter Gouverneur, will ihm gut zureden und fragt ihn, warum er denn ein so zügelloses, Regeln und Grenzen überschreitendes Leben führe. Stawrogin beugt sich dicht zum alten Herrn hin, nicht etwa, um ihm eine vertrauliche Antwort ins Ohr zu flüstern, sondern: um ihm schmerzhaft, ca. eine Minute lang, in die obere Hälfte seines Ohres zu beißen. Ein anderes Experiment: Stawrogin heiratet eine lahme, geistig verwirrte Frau! Damit macht er sich lustig über diese arme Frau, verspottet die Institution Ehe, handelt masochistisch gegen sich selber und fragt sich gleichzeitig voller Neugier: Was wird daraus werden? Wie wird diese Heirat auf die Frau wirken, wie auf die Gesellschaft? Stawrogin experimentiert ferner mit einer „Untat so gemein und lächerlich, daß die Menschen noch tausend Jahre lang vor einem ausspucken würden...“ Er liefert Ideen für eine Revolution, die ihn im Grunde nicht interessiert. Aber sein furchtbarstes Experiment ist dieses: Stawrogin verführt und mißbraucht ein junges Mädchen, treibt es in den Selbstmord. Und jetzt passiert etwas Besonderes: Stawrogin, der Eisige, der Gleichgültige, verkraftet diese eine Tat nicht. Sie verfolgt ihn in Form von Halluzinationen, veranlaßt ihn sogar zu einer Art Beichte bei einem Mönch namens Tichon. Stawrogin ist ein im allerhöchsten Grad unglücklicher Mensch. Er ist sich des fundamentalen Defekts in seiner Naturanlage bewußt: Aus ihm sei, so schreibt er in einem letzten Brief, immer nur die Negation geströmt. Er wisse, daß er sich von der Erde wegfegen müßte wie ein elendes Insekt. Er endet dann auch durch Selbstmord.

Die Hexe, Claggart, Stawrogin: Drei Beispiele für das Elend, die Tragik des Bösen. Sie bestätigen Schopenhauers Aussage: böse Menschen sind gequälte, getriebene, unglückliche Kreaturen, abgeschnitten von den Quellen des Glücks. Stawrogins schlimmste Tat soll mir das Schlußwort liefern: Die Erscheinungsformen des Bösen sind vielfältig. Zu den ekelhaftesten und furchtbarsten Verbrechen gehört der Mißbrauch von Kindern.

Querverweise

Sachartikel

Personenartikel

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