Beliebigkeitsschreibung

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Version vom 11. April 2011, 22:13 Uhr von Manfred Riebe (Diskussion | Beiträge) (Neu: Beliebigkeitsschreibung)

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Unter Beliebigkeitsschreibung versteht man einen Schreibwirrwarr oder Mischmasch herkömmlicher und „neuer“ Schreibweisen sowie individueller Schreibungen, die sowohl nach der traditionellen Orthographie als auch nach der Schulschreibreform von 1996 falsch sind.

Beiträge, Interviews und Materialien zum Kampf gegen Rechtschreibreform und Anglizismen, Oktober 2004

Beispiele

Symptomatisch für die neue Beliebigkeitsschreibung ist die Eszett-Schreibung, z.B. „Fussball“, „Grüsse“, „Spass“, „Strasse“, „weiss“. Diese Schreibweisen sind sowohl nach der traditionellen Orthographie als auch nach der Schulschreibreform von 1996 falsch.

Eine solche Beliebigkeitsschreibung sieht man auch im Internet, so z.B. abwechselnd die traditionelle Schreibweise „Schloßstraße“, die neue „Schlossstraße“, aber auch die falschen Schreibweisen „Schloßstrasse“ oder „Schlossstrasse“. Allerdings ist „Schlossstrasse“ in der Schweiz richtig, weil dort das Eszett abgeschafft wurde. Doch geographische Bezeichnungen und auch ursprüngliche Straßennamen werden trotz Schulschreibreform weiterhin mit Eszett geschrieben, so z.B. die Schloßstraße in Berlin-Charlottenburg.

Auch in der Wikipedia-Enzyklopädie oder in anderen Wikis sieht man solchen Schreib-Mischmasch auf Diskussionsseiten, aber auch in Artikeln, solange nicht ein Orthographiekundiger solche Fehler korrigiert.

Außerdem werden Familiennamen als Eigennamen trotz Schulschreibreform weiterhin mit Eszett geschrieben: Litfaßsäule.

Das Durcheinander wird noch durch die Schweizer Sonderorthographie erhöht, in der es kein Eszett gibt. Außerdem müssen Zitate aus historischen Quellen in der herkömmlichen Rechtschreibung wiedergegeben werden.

Das Ergebnis ist ein Schreib-Wirrwarr wie im 19. Jahrhundert zu Zeiten Konrad Dudens.

Problematik

Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 berücksichtigte das Gericht den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. März 1998: „Die Sprache gehört dem Volk!“: „Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben.“ [1] Die Rechtschreibreform gilt daher seit 1996 nur für die Schulen und das in wechselnden(!) Fassungen. Außerhalb der Schulen kann laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 jeder so weiterschreiben wie bisher, d.h. in der allgemein üblichen herkömmlichen traditionellen Orthographie.

Duden

Der Duden hob zwar seit 1996 die Schulschreibung rot hervor, erschien aber grundsätzlich weiterhin in der traditionellen Orthographie. Diese Handhabung wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Der Rechtschreibreformer Professor Horst Haider Munske, Uni Erlangen, empfahl den Lehrern:
„Alles Rotgedruckte ist falsch! Man vermeide die roten Giftpilze im Duden!“ [2]

Repräsentative Umfragen

Daß sich die Rechtschreibreform nicht durchgesetzt hat, kann man den repräsentativen Umfragen entnehmen, die dies seit Jahren berichten. Mir fällt z.B. ein Bericht der Nürnberger Zeitung über eine repräsentative Emnid-Umfrage ein:

  • Umfrage: Immer noch Probleme mit der neuen Orthografie. In: Nürnberger Zeitgung vom 21. April 2008, S. 32

Danach haben sich 62 Prozent der Deutschen nicht an die neue Rechtschreibung gewöhnt. Vorherrschend ist auf Grund der repräsentativen Umfragen nach wie vor die traditionelle Orthographie.

Im Wikipedia-Artikel „Deutsche Rechtschreibung“ heißt es:

„Die reformierte Rechtschreibung wird jedoch nur von einer kleinen Minderheit der deutschen Bevölkerung befürwortet und von einer Mehrheit abgelehnt, wie eine Umfragenreihe ergeben hat.“

Viele Zeitungen fälschen jedoch die Leserbriefe in den Neuschrieb um und täuschen mit dieser Gleichschaltung leichtgläubigen Lesern einen Gleichschritt vor, den es nicht gibt.

Hausorthographien

Jeder Verlag kann entscheiden, wie er schreiben will. Das Stadtlexikon Nürnberg (1999) erschien z.B. in der traditionellen Orthographie. Daß sich die Rechtschreibreform nicht durchgesetzt hat, kann man auch an der neuen Beliebigkeitsschreibung in manchen Medien und im Internet erkennen: Es gibt Dutzende von Hausorthographien der Verlage und Zeitungen, aber zugleich auch viele Zeitschriften, die weiterhin traditionell schreiben.

Das Durcheinander bei denen, die sich untertänig vor dem Geßlerhut der neuen „ss“-Schreibung verbeugen, sieht man besonders an der häufigen falschen Schreibweise „Strasse“, „weiss“ oder „Fussball“, auch in Internet-Lexika wie der Wikipedia und in Regional-Wikis.

Die Zeichensetzung war und ist weitgehend beliebig.

Das Kleinreden von Rechtschreibreform-Kritik durch Befürworter der Rechtschreibreform entgegen den historischen Fakten kommt häufig vor. Die vielen Reformen der Schulschreibreform von 1996 hätte es aber ohne die Kritiker nicht gegeben.

Ursachen

Ursächlich für den Wirrwarr ist die überflüssige, mangelhafte, verwirrende und laufend hin- und herreformierte Schulschreibreform von 1996.

Keine einheitliche Orthographie

Professor Dr. Jean-Marie Zemb, Collège de France, Paris, stellte fest, daß bei den 3. Wiener Gesprächen keine einheitliche Schreibung des Deutschen beschlossen wurde, sondern eine österreichische, eine Schweizer und eine deutsche Rechtschreibung. [3] Eines der Beispiele, die Zemb u.a. anführt, ist die durchgängige Schweizer ss-Schreibung, die ja 90 Prozent der Reform umfaßt. [4]

Wörterbücher

Abweichungen

Die Schulschreibreform von 1996 führte dazu, daß sogar in den neuen Wörterbüchern bereits 1996 viele Schreibweisen voneinander abwichen.

Varianten

Die in Wörterbüchern wie „Wahrig“ oder „Duden“ gebotenen Alternativen waren und sind für „Laien“ kaum überschaubar.

Deutsche Nationalbibliothek

Eine verwirrende Beliebigkeitsschreibung entdeckt man im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek in Gestalt einer häufig falschen Eszett- bzw. SS-Schreibung. Das ist schwerwiegend, weil ausgerechnet die Deutsche Nationalbibliothek, der man vertrauen können sollte, als eine Multiplikatorin hausgemachter Schreibfehler wirkt.

Gleichschaltung und Widerstand

Am 1. August 1999 erfolgte eine Gleichschaltung der Presse auf der Grundlage einer eigenen Presseorthographie der Deutschen Presse-Agentur. Diese weicht aber in einigen Bereichen von der Schulschreibung ab.

Wegen der Mängel der Rechtschreibreform schufen aber auch viele Verlage ebenfalls voneinander abweichende Hausorthographien, zumal es kein Rechtschreibgesetz gibt.

Aber nicht alle Zeitungen und Zeitschriften ließen sich auf die neue Beliebigkeitsschreibung gleichschalten. Über 300 Zeitungen und Zeitschriften blieben bei der traditionellen Rechtschreibung, vgl. die Liste der reformfreien Zeitungen und Zeitschriften: http:// www.gutes-deutsch.de, darunter die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung und das Ostpreußenblatt.

Rückkehr zur traditionellen Rechtschreibung

Infolge der sogenannten Rechtschreibreform entstand allenthalben, z.B. auch in den Zeitungen, ein ziemlicher Schreibwirrwarr, eine Art Beliebigkeitsschreibung.

Deshalb kehrte die FAZ am 1. August 2000 zur traditionellen Orthographie zurück, geißelte die neue Schulschreibung in einer ganzseitigen Anzeige als „Missstand“ und gab Anfang Oktober 2000 eine reformkritische Broschüre heraus „Die Reform als Diktat“.

Aber Geld regiert die Welt. So machte die FAZ zum 1. Januar 2007 erneut eine Kehrtwende und kehrte zur vorher verdammten neuen Schulschreibung zurück.

Literatur

  • Es lebe die Anarchie. In: DIE WELT vom 24. Oktober 1995 - WELT online
  • Ingrid Bachér: [5]Wenn alles veränderbar ist, wächst die Beliebigkeit. Ein Schildbürgerstreich: Die geplante Rechtschreibreform wird die Bürokratie stärken und die Sprache verarmen. In: DIE WELT vom 28. November 1995 - WELT online
  • Jean-Marie Zemb: Ja, wenn Sie mich fragen .... In: Hans Werner Eroms; Horst Haider Munske (Hrsg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1997, S. 255-264
  • Jean-Marie Zemb: Für eine sinnige Rechtschreibung. Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust. Tübingen: Niemeyer Verlag, 1997, 154 Seiten, ISBN 3-484-73047-1
  • Manfred Riebe: Unlogisch und verwirrend. Vor einem Jahr wurde in den meisten Medien die neue Rechtschreibung eingeführt. In: Junge Freiheit Nr. 31/32 vom 28. Juli / 4. August 2000, S. 11 – im Netz
    • Wiederabdruck in: Rettet die deutsche Sprache. Beiträge, Interviews und Materialien zum Kampf gegen Rechtschreibreform und Anglizismen. Dokumentation, EDITION JF. Berlin: Junge Freiheit Verlag, Oktober 2004, S. 132-137
  • Manfred Riebe: Über die „Rechtschreibreform“: Kritik, Rechtslage, .... In: Westpreußen-Archiv vom 19. Juli 2003 - im Netz
  • Beliebigkeitsschreibung, die - Neue Wörter vom 20. Juli 2004 - wortwarte.de
  • Dieter Stein (Hrsg.): Rettet die deutsche Sprache. Beiträge, Interviews und Materialien zum Kampf gegen Rechtschreibreform und Anglizismen. Berlin: Edition JF – Dokumentation, Band 9, 2004, 192 Seiten, ISBN 3-929886-21-9
  • Unsere heutige Rechtschreibung – eine wohlfeile Beliebigkeitsschreibung? Nach dem 1. August 2005, Verlag Beruf + Schule Belz KG - vbus
  • Orthography Reform: German Orthography Reform of 1996. History of Dutch Orthography. Reforms of French Orthography. Books Llc's Photocopy Edition. Publisher: Books Llc, September 2010, 60 or less pages - flipkart.com

Querverweise

Netzverweise

  • Beliebigkeitsschreibung - VRS
  • Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (VRS) - VRS

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 14. Juli 1998, Az.: 1 BvR 1640/97, S. 59
  2. Horst Haider Munske: Neue Rechtschreibwörterbücher im Irrgarten der Rechtschreibreform. Wie soll man selber schreiben und publizieren in diesem Rechtschreibchaos? In: Schule in Frankfurt (SchiFF), Nr. 44, Juni 2001 - SchiFF
  3. Jean-Marie Zemb: Für eine sinnige Rechtschreibung. Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust. Tübingen: Niemeyer Verlag, 1997, S. 53
  4. Zemb, a.a.O., S. 72, 148 f.
  5. Ingrid Bachér ist seit Mai 1995 Präsidentin der Schriftstellervereinigung P. E. N.-Zentrum West.