Die Schule der Zukunft

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Der Artikel Die Schule der Zukunft ist eine Satire von StD i.R. Wolfgang Illauer.

Vorbemerkung

Die folgende Satire zeigt, daß sogenannte „Intellektuelle“ (ausgehend von durchaus ehrenwerten Wünschen und Prämissen) zu scheinbar logischen, in Wirklichkeit aber völlig realitätsfremden Schlußfolgerungen gelangen können, zu Überzeugungen, die jedem gesunden Menschenverstand hohnsprechen, zu Reformforderungen, deren Verwirklichung riesigen Schaden anrichtete. Sie zeigt im letzten Abschnitt, daß solche „Idealisten“ sogar bereit wären, Gewalt anzuwenden, wenn sie der Durchsetzung ihrer Ziele förderlich wäre.

Die Satire wurde angeregt durch die Kapitel V und VI des dritten Teils von Jonathan Swifts Roman „Gulliver's Travels“ (1726). Hier berichtet Gulliver von seinem Besuch in der „großen Akademie“ von Lagado, der Hauptstadt des Königreichs Balnibarbi. Die Professoren dieser Erfinder-Akademie bzw. Denkfabrik hecken unerhörte Projekte und sensationelle Neuerungen aus. Eine Arbeitsgruppe beispielsweise hat das folgende Projekt entwickelt: Abschaffung des Sprechens! Dadurch, so versichern die Forscher, würden die Lungen geschont, und die Lebenserwartung steige. In Zukunft wird sich jeder gebildete und fortschrittliche Bürger des Landes, statt die Zunge zu bemühen, mit Hilfe von kleinen Figuren und Gegenständen unterhalten, die er in einem Sack mit sich herumträgt. Nur rückständige, der Vergangenheit verhaftete, ewiggestrige Konservative, vor allem die Frauen, verweigern sich dem Fortschritt und sprechen weiterhin auf traditionelle Art! Treffen sich aber zwei gebildete Bürger, die miteinander kommunizieren wollen (Gulliver hat das des öfteren beobachtet), setzen sie ihre Säcke ab, öffnen diese, breiten die benötigten Gegenstände aus und halten wortlose Konversation. Vorteilhafter Nebeneffekt der Neuerung: das Erlernen von Fremdsprachen erübrigt sich, da die Figuren-Symbole unmittelbar für jeden Menschen auf der ganzen Welt sofort verständlich sind.

Der König Balnibarbis beherrscht sein Reich von der Fliegenden Insel Laputa aus, einer runden, riesigen Scheibe, die durch magnetische Kräfte in der Schwebe gehalten und gesteuert wird. Sie kann auf den Erdboden gesetzt werden, aber auch in einer Höhe von mehreren Kilometern über dem Land fliegen. Der König ist aufgeschlossen für jede wissenschaftlich fundierte Neuerung, aber auch sehr machtbewußt. Flammt in seinem Reich irgendwo Widerstand auf, läßt er die Fliegende Insel über dem Rebellengebiet längere Zeit stillstehen. Dann fällt dort kein Regen mehr, und die Sonne scheint dort nicht mehr. Beharren die aufständischen Untertanen trotzdem immer noch auf ihrem Widerstand, bombardiert man sie von oben mit Steinen. Hilft auch das nichts, wird die Insel auf den Erdboden herabgesenkt und zermalmt die Häuser und die Menschen. Letzteres ist eine Maßnahme, zu der der König nur selten greifen muß.

Wolfgang Illauer, Dezember 2013

Die Schule der Zukunft [1]

Von Wolfgang Illauer

Freude und Leid eines wahren, progressiven Humanisten

Ich bin Intellektueller (kritisch, alternativ, progressiv), Demokrat, Humanist, Humanist im wahren Sinn des Wortes, gelang es mir doch, ein bayerisches „humanistisches“ Gymnasium, diese Brutstätte konservativ-bürgerlicher Reaktion und elitären, rückwärtsgewandten Dünkels, seelisch unbeschadet zu überstehen und zum echten, unverfälschten Humanismus durchzudringen. Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung aller Menschen, die Freiheit eines jeden Menschen, ganz er selbst sein zu dürfen, den eigenen Neigungen gehorchen zu dürfen, ohne daß ihm die scheelen Blicke und das unwillige Stirnrunzeln ewig gestriger, überholten Moralvorstellungen huldigender Nachbarn das Leben vergällen - , das sind für mich die höchsten Ziele, die heiligsten Grundlagen, die obersten Werte einer modernen Staatsverfassung. Hinschauend auf das Leitgestirn dieser Werte müssen wir uns unablässig, leidenschaftlich und mit aufopferungsvollem Einsatz bemühen! Dann wird unsere gegenwärtige, mit schweren Mängeln behaftete Demokratie sich weiterentwickeln zum Ideal eines vollkommenen Staates, der sich gründet auf eine in jeder Hinsicht tolerante, offene und gerechte Gesellschaft. Niemand mehr wird ausgegrenzt sein, niemand diskriminiert, niemand benachteiligt! Jede Lebensform wird sich entfalten dürfen und die Achtung aller genießen. Welch wunderbares Glücksgefühl verspürte ich in den letzten Monaten und Wochen, welch tiefe, innige Befriedigung erfüllte mich, als ich erfuhr, daß wenigstens auf e i n e m Gebiet Jahrtausende altes Unrecht beseitigt wird! Endlich, endlich (zum ersten Mal in der Weltgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts nach Christus!) scheint sie Wirklichkeit zu werden, die Ehe für alle. Endlich (welch atemberaubender, bahnbrechender Vorstoß der Menscheit in eine bessere, gerechtere, demokratischere, tolerantere Zukunft!) dürfen Frauen Frauen und Männer Männer heiraten, endlich bekommen die Begriffe „Ehe, Heirat, Eltern, Familie“ ihren wahren, von Gott und der Natur gewollten Sinn, endlich dürfen Kinder zwei Mütter haben, zwei Väter! Nur rückständige, unbelehrbare Konservative sind nicht in der Lage, sich zu lösen von der lächerlichen und überholten Vorstellung, ein Kind brauche einen Vater und eine Mutter.

Aber o weh! Zwar ist die düstere Wolkendecke all jener gesellschaftlichen Zustände, die eigentlich längst der Vergangenheit angehören sollten, an dieser einen Stelle aufgerissen, und allen liebenden Paaren, ob heterosexuell, schwul oder lesbisch, leuchtet dort der wundersam blaue Himmel der Ehe und der gemeinsamen Elternschaft. Aber o weh! An anderer Stelle drückt noch immer schwer, dicht, unbeweglich die schwarze Wolkendecke einer schreienden sozialen Ungerechtigkeit! Ich leide unsagbar darunter, ich leide physisch darunter und vergesse fast meinen Jubel über den historischen Sieg der homosexuellen Menschen. Bin ich doch Bildungsexperte von Beruf!

Lieber Leser, ahnst du, welche Ungerechtigkeit ich meine? Unser dreigliedriges Schulsystem ist ein brutaler Selektionsmechanismus, furchtbarer, schrecklicher als der von den Biologen in der Natur entdeckte; denn letzterer diente der Weiterentwicklung der Lebewesen und führte schließlich zur herrlichen Krone der Schöpfung, zum Menschen; ersterer hingegen verhindert die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu einer wahrhaft toleranten, demokratischen und gerechten Gesellschaft, in der jeder, unabhängig von seiner Herkunft, die gleichen Chancen besitzt. Unser dreigliedriges Schulsystem verwehrt den Arbeiter- und Migrantenkindern das Abitur, das Studium an der Universität, den sozialen Aufstieg. Das Gymnasium - für diese Kinder das schreckliche, zähnefletschende, den Zugang zur Bildung versperrende Kopfstück des dreigliedrigen Drachen - ist reserviert für die Kinder der aus Beamten, Akademikern und reichen Unternehmern bestehenden Oberschicht. Allen anderen Kindern ist der Zutritt verboten! Welcher Skandal! Denn der Schulerfolg, die Schulkarriere eines Kindes hängt nicht von seiner Begabung ab (sind doch die Arbeiter- und Migrantenkinder nicht weniger gescheit als die Akademikerkinder!), sondern vom Geldbeutel der Eltern, von der sozialen Herkunft, vom Elternhaus! So kann, so darf es nicht weitergehen! Wir brauchen eine neue Schule, eine Schule, in der alle Kinder zum Abitur geführt werden, eine Schule, die allen Kindern ohne Ausnahme ein Studium an der Universität ermöglicht. Das dreigliedrige, die Chancengleichheit vernichtende Schulsystem ist eine Mauer, die quer durch unsere Gesellschaft geht. Diese Mauer müssen wir einreißen!

Ein Strahl der Hoffnung aus Lagado

Und sie kann eingerissen werden! Die neue Schule existiert bereits, sie existiert in den Köpfen der weltbesten, kreativsten Wissenschaftler! Erste Testergebnisse lassen einen überwältigenden Erfolg des neuen Systems erahnen. Ich weiß das seit meinem Studienaufenthalt in der Erfinder-Akademie in Balnibarbis Hauptstadt Lagado (jedem progressiven Menschen sei die Reise dorthin dringend empfohlen!), und jetzt sehe ich einen Weg, einen sicheren und einfachen, zum gewünschten Ziel. Neue Hoffnung erfüllt mein Leben, neuer Sinn, neuer Mut! Allerdings, der Zugang muß erst freigekämpft werden. Es wird ein großer, ein gewaltiger Kampf sein; denn die Konservativen werden mit allen Mitteln versuchen, den Weg in eine bessere, gerechtere Zukunft zu blockieren.

Im wissenschaftlichen Forschungszentrum für Pädagogik an der Universität von Lagado waren die prominentesten Erziehungswissenschaftler des Landes eben damit beschäftigt, das Projekt einer neuen Schule einem Praxistest zu unterwerfen. Daß diese neue Schule eine Gemeinschaftsschule ist, in der alle Kinder ohne Ausnahme von der ersten bis zur dreizehnten Klasse denselben Unterricht genießen, versteht sich von selbst. Schüchterne Ansätze dazu (Inklusion!) gibt es sogar in unserer verkrusteten, an überholten Traditionen klebenden Gesellschaft. Die eigentliche Reform, die zentrale und geniale Idee betrifft eine neue, unerhörte, faszinierende Methode, die der Schule der Zukunft zu einem bisher nicht für möglich gehaltenen didaktisch-pädagogischen Erfolg verhelfen wird. Diese Reform (sie wird gleichzeitig an mehreren Versuchsschulen Lagados von namhaften Pädagogen und Didaktikern in Zusammenarbeit mit Psychologen, Soziologen und Medizinern getestet) gehört, davon bin ich fest überzeugt, zu den bedeutendsten Reformen der Weltgeschichte. Sie wurde erarbeitet unter der Leitung von Professor P., der als vielversprechender junger Mann auf der Fliegenden Insel hatte studieren dürfen. Professor P. trifft mit seinem in der Geschichte der Pädagogik wohl einmaligen Geniestreich das auch in Balnibarbi nicht unbekannte Übel der im bürgerlichen Sinne selektierenden, kinderzerstörenden Notenterrorschule an der Wurzel und wird es, davon sind alle Bildungsexperten des Landes überzeugt, endgültig und für immer ausrotten, wenn nur der Widerstand der konservativen, fortschrittsfeindlichen Kräfte (auch dieses Übel ist in Balnibarbi nicht unbekannt) überwunden werden kann.

Eine geniale Idee und ihre wunderbare Wirkung

Des großen Balnibarben Gedanke ist einfach und schlicht wie alle wahrhaft genialen Ideen, vergleichbar dem großen platonischen Gedanken zur Verwirklichung des idealen Staates (es brauchen nur die Philosophen Könige zu werden oder die Könige Philosophen, und dann...): Die Individualprüfungen müssen nur durch Kollektivprüfungen ersetzt werden, die Individualschulaufgabe bzw. Individualklassenarbeit muß nur durch die Kollektivschulaufgabe bzw. Kollektivklassenarbeit ersetzt werden, und alle Schwierigkeiten und Probleme lösen sich von selbst. Daher auch der Name der neuen Schule: „Koschagschule“ ist die Abkürzung für „Kollektivschulaufgabenschule“.

Ich weiß nicht, geneigter Leser, ob du die Tragweite dieser die Geschichte des Bildungswesens und damit der menschlichen Gesellschaft revolutionierenden Erkenntnis bereits zu erfassen imstande bist. Ruhig und gelassen will ich dir alles erklären! Das also ist die kleine, unendlich folgenschwere Änderung:

Kein Schüler mehr muß in strenger Abgeschiedenheit (Professor P. nannte es „Isolationsfolter“) über seiner Prüfungsarbeit brüten, mangelhafte Note und damit Nichterreichen des Jahresziels oder Nichtbestehen des Abiturs als lähmende Schreckgespenster vor Augen, nein, die ganze Klasse bearbeitet gemeinsam (teamwork!) die gestellte Prüfungsaufgabe! Nur eine einzige Arbeit (vom „Protokollanten“ im Namen der Klasse angefertigt) wird abgeliefert! Der Lehrer korrigiert und benotet diese eine Arbeit. Jeder Schüler als Mitglied des Klassenkollektivs erhält dann dieselbe Note.

Höre, staune, freue dich, geliebter Leser! Denn wunderbar sind die sieben Konsequenzen der Reform:

1. Keine Prüfungsangst mehr, keine Schülerselbstmorde mehr, gesunder Schlaf in der Nacht vor der Schulaufgabe!

2. Immerwährende Freude in den Familien der Schüler über die vielen guten Noten! Unser ganzes Volk wird glücklicher und friedlicher sein!

3. Ungeheuere Arbeitsentlastung der überlasteten Lehrer: statt durchschnittlich 20 oder gar 30 Arbeiten pro Schulaufgabe bzw. Probearbeit bzw. Klausur müssen sie jeweils nur eine einzige, meist sehr gute Arbeit korrigieren. Jetzt haben sie erheblich mehr Zeit zur besseren Vorbereitung auf den Unterricht und zur Weiterbildung. Die Unterrichtsqualität wird steigen, wird um ein Vielfaches steigen!

4. Kein Zwang mehr zu Täuschung und Betrug („unerlaubte Mittel“ bei der Schulaufgabe, „Spicken“ bei der Schulaufgabe), also keine Charakterkorruption mehr durch die antiquierte Prüfungsmethode der Individualschulaufgabe, die vom Kindesalter an zu Unredlichkeit und Unterschleif erzieht. Der Volkscharakter wird sich heben! Ein moralisch besseres Volk wird entstehen!

5. Kein gemeinschafts- und charakterzerstörender Konkurrenzkampf mehr innerhalb der Klasse! Jeder bekommt ja dieselben guten Noten, dasselbe gute Zeugnis!

6. Da kein Schüler durchfallen kann (in der Schulordnung ist ausdrücklich verboten, daß eine Klasse als Ganzes durchfällt): Kollektivjahreszeugnis (jeder Schüler bekommt es natürlich in die Hand, auf seinen Namen ausgestellt) und Kollektivabitur aller Schüler eines jeden Schülerjahrgangs und damit

7. endgültige Vernichtung des dreigliedrigen Schulsystems, Verwirklichung der echten und wahren, alle Schüler ohne Ausnahme zum Abitur führenden, einzig erlaubten (weil allein gerechten) Schulform im Land: der human-demokratischen Gemeinschaftsschule, der Koschagschule!

Verzeih, lieber Leser, wenn ich meiner leidenschaftlichen Erregung die Zügel schießen lasse! Aber beim Gedanken an den Drachenkopf des dreigliedrigen Systems, beim Gedanken ans Gymnasium, da steigt in mir ein Groll hoch, ein unendlicher, der Groll des fortschrittlichen und kritischen Intellektuellen über diese böse Brutstätte der schlimmsten sozialen Krankheit unserer Gegenwart: Herrschaft einer an Gymnasium und Universität herangezüchteten Eliteklasse, die ihr Privileg ausschließlich an die eigenen Kinder weitergibt. Nur dann, wenn das bürgerliche Gymnasium vernichtet ist, wenn die Universitäten offenstehen für alle, wenn alle studieren, nur dann ist die wahre Gleichheit, die wahre Freiheit, die wahre Solidarität aller Bürger gewährleistet.

Sind das nicht Perspektiven, die jedes progressive Intellektuellenherz höher schlagen lassen? Bedeutet die Koschagschule nicht einen Aufbruch zu neuen pädagogischen und gesellschaftlichen Ufern?

Alberne Einwände und bösartige Stänkereien von seiten der Konservativen

Aber da höre ich schon jene Gymnasiallehrer alten Stils, jene erbarmungslosen und autoritären Pauker, die fortwährend mit Fünfern und Sechsern drohen, mit Nichterreichen des Klassenziels, mit Verweisung von der Schule, jene Reaktionäre, denen es, selbst Bildungsbürgern, nur darum geht, die Herrschaft des Bildungsbürgertums auf dessen Söhne und Enkel zu übertragen (denn die Arbeiter- und Migrantenkinder, obwohl den Akademikerkindern an Begabung durchaus ebenbürtig, scheitern an der von der herrschenden Klasse eifersüchtig gehüteten, überaus komplizierten Rechtschreibung, an den Schwierigkeiten des Hochdeutschen, an den Fremdsprachen – und warum? Weil sie im Dialekt aufwachsen oder eine andere Muttersprache haben, weil ihre einfachen, bildungsfernen Eltern ihnen nicht helfen können - , die Akademikerkinder dagegen schaffen die gymnasiale Hürde – und warum? Erstens deshalb, weil die Gymnasiallehrer, Handlanger der herrschenden Oberschicht, diese Kinder in der Notengebung bevorzugen, und zweitens deshalb, weil die Akademikerkinder im Elternhaus das flüssige hochdeutsche Parlieren erlernen und in den Fächern, die logisches Denken erfordern, intensivsten Nachhilfeunterricht erhalten, den sich, empörende Ungerechtigkeit, nur die reichen Leute der Oberschicht leisten können), da höre ich also jene unmenschlichen Pauker, denen ein bißchen weltanschauliche Umerziehung, ein paar Nachhilfestunden im Fach Ethik (Thema: soziale Gerechtigkeit), nicht schaden dürfte, hohnlachend geifern: „Aber was ist mit dem Leistungsniveau??? Neunzig Prozent aller Schüler würden von der Leistung einiger weniger schmarotzen, würden ihr Abitur geschenkt bekommen! Außerdem: es ist heller Wahnsinn, hundert Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur machen zu lassen, wo doch höchstens fünfzehn Prozent für das Abitur und für ein ernstzunehmendes Universitätsstudium geeignet sind!“

Solche und ähnliche Ungereimtheiten werden sie vorbringen, und zum Schluß werden sie, schäumend vor Wut, ihr wichtigstes „Argument“ herausbrüllen: Die Koschagschule sei ein linke, rot-grüne „Utopie“! Mit dieser dummen Phrase nämlich glauben sie jeden progressiven Menschen im Gespräch vernichten zu können, am liebsten würden sie es körperlich tun, diese ....

Ich muß nun freilich gestehen, daß ich damals (denn jetzt bin ich ein Überzeugter, ja ich darf wohl sagen: ein Bekehrter, ein Gläubiger), überrascht von der unerhörten Radikalität dieser Reform, die Genialität der „kleinen Änderung“ nicht sofort erfaßte (obwohl projektfreudiges, allem Neuem aufgeschlossenes Mitglied mehrerer progressiver Lehrervereinigungen und einer zukunftsorientierten Partei) und einen in ähnliche Richtung gehenden Zweifel (wie schäme ich mich heute darüber!) an Professor P. zu richten mich erdreistete.

Professor P.'s gloriose Widerlegung dieser Einwände

Hinreißend, überzeugend, jeden Zweifel erstickend seine Antwort! So sprach der begnadete Pädagoge, heftig zuerst, dann mild und geduldig erklärend, dann voll edler, visionärer Begeisterung:

„Sagen Sie Ihren Steinzeitpädagogen in der BRD, daß sie von der Natur des Menschen recht wenig verstehen! Gerade das Gegenteil wird der Fall sein: ein allgemeiner Niveauanstieg, eine gewaltige Leistungssteigerung! Sehen Sie, alle Schüler – das kann als gesichertes Ergebnis unserer Forschung gelten – sind gleich begabt, natürlich nicht in jedem Fach (es gibt z.B. musikalische und weniger musikalische Kinder – auch das haben wir in jahrelangen, umfangreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen), aber der Begabungsdurchschnitt in allen Fächern ist gleich. Jeder Schüler gehört also in irgendeinem Fach zur Klassenspitze, jeder Schüler wird bei der Schugadisk – das ist die Diskussion, die sich bei der Lösung der Schulaufgabe im Klassenkollektiv entzündet – in diesem seinem Fach zu den führenden und entscheidenden Köpfen gehören. Die Freude, hier bestimmend mitwirken zu können, das stolze Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, treibt nun die Schüler jeweils auf ihrem Spezialgebiet zu Leistungen, von denen man im traditionellen Individualschulaufgaben-System nicht einmal zu träumen wagt! Aber auch in seinen schwächeren Fächern wirkt der Schüler nach bestem Vermögen bei der Schugadisk mit! Von Schmarotzertum kann keine Rede sein. Ist es doch wichtigster und heiligster Grundsatz im Ehrenkodex des Klassenkollektivs – so haben wir immer wieder bei unseren Forschungen festgestellt -, daß jeder seinen Beitrag leistet zum gemeinsamen Erfolg, und sei es nur mit kleinen, untergeordneten, aber nichtsdestoweniger oft sehr hilfreichen und nützlichen Hinweisen oder Handlungsdiensten. Die im Fach Englisch schwachen Schüler z.B. werden bei einer Englischschulaufgabe, im Dienst der führenden Übersetzergrößen der Klasse, unbekannte Wörter im Lexikon nachschlagen, in Vergessenheit geratene Grammatikregeln in der Grammatik aufspüren oder einfach, sollten sie bei solcher Arbeit in unerwartete Schwierigkeiten geraten, den führenden Teamkollegen die benötigten Bücher reichen – genauso wie bei einer schwierigen Herzoperation jedes Teammitglied am Erfolg beteiligt ist, nicht nur der leitende Chirurg, sondern auch seine Assistenten, die Haken halten, Instrumente reichen usw., genauso wie bei einem Fußballsieg jeder am Sieg beteiligt ist, nicht nur der strahlend-heldenhafte Stürmerstar, sondern auch die unscheinbareren, jenem zuarbeitenden Mannschaftskameraden, die selbstlosen Ballschlepper und Verteidiger, nicht zuletzt auch die vielen, vielen treuen, unermüdlich anfeuernden Fans, genauso wie bei einem Violinkonzert jeder mitwirkt beim Entstehen des Gesamtklanges, nicht nur der göttergleiche Sologeiger, sondern auch der bescheiden im Hintergrund sein magisches Schrumm-Schrumm erzeugende Zweite Geiger, Bratschist, Cellist usw...

Meine Kollegen und ich haben, diesen Ansatz ausnützend, den Eifer der Klassenteams noch gesteigert, indem wir für das Team mit dem besten Jahreszeugnis einen Preis aussetzten: einen vierwöchigen Aufenthalt auf der Fliegenden Insel, verbunden mit täglicher Diskussion im Kreise der besten Köpfe unseres Landes! Denn was gibt es Würdigeres, Humaneres, Geist und Charakter Bildenderes als eine Diskussion unter aufgeschlossenen und fortschrittlichen Leuten? Entsteht da nicht langsam aus all den kleineren und größeren Wahrheitskörnchen der andauernd und unermüdlich von allen Seiten herangetragenen individuellen Beiträge, entsteht da nicht ganz allmählich der imposante Berg einer kollektiven und heiligen Wahrheit, einer einzigen, alle Diskussionspartner in wunderbarer Harmonie einenden Kollektiverkenntnis?“

„Sie können sich nicht vorstellen“, fuhr Professor P. nach diesem glanzvollen Exkurs über das Wesen der Diskussion mit bewegter Stimme fort, „mit welch mitreißender Leidenschaft, mit welch leuchtenden Augen, mit wie von Eifer geröteten Gesichtern die Schüler arbeiten, und das aus innerstem Antrieb, ohne jeden Zwang! In der Tat, ein Erfolg unserer Reformarbeit, auf den wir stolz sein dürfen.“

Professor P. hielt inne, ein prophetischer Schimmer erleuchtete sein edles Pädagogenantlitz. „Aber, lieber Freund, wunderbarer noch, großartiger, folgenschwerer noch ist die folgende, in einigen Jahrzehnten zu erwartende Auswirkung unserer neuen Erziehung: Heilung der schwersten, bisher für unheilbar gehaltenen Krankheit des Staates! Welche Krankheit meine ich? Daß nicht die Fachkundigen, daß nicht die in Wahrheit Fähigen und wirklich Wissenden die Entscheidungen des öffentlichen und politischen Lebens am meisten beeinflussen, sondern nur allzu oft Leute, die sehr wenig wissen und verstehen, dafür aber umso frecher auftreten und umso lauter schreien! Merken Sie, worauf ich hinauswill? Erkennen Sie die ungeheuere Bedeutung der „kleinen Änderung“? Professor P. schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort, und seine Stimme zitterte vor innerer Erregung:

„In 13 Schuljahren hat sich jeder junge Mensch in vielen, vielen Kollektivschulaufgaben daran gewöhnen müssen, nur dort ein entscheidendes Wort mitzureden, nur dort bestimmend einzugreifen, wo er wirklich etwas weiß und versteht, dort aber, wo er weniger kompetent ist, den Besseren, Begabteren, Fähigeren den Vorrang zu lassen und selber nur Helferdienste zu leisten. So sehr ist ihm diese Verhaltensweise in Fleisch und Blut übergegangen, zur zweiten Natur geworden, daß er sie nie mehr ablegen kann. In wenigen Jahrzehnten werden alle Staatsbürger so erzogen sein; die wahre, die ideale Demokratie ist greifbar nahe, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit: die Herrschaft der Besten und Fähigsten in jedem Bereich des öffentlichen Lebens und der Politik, und das ohne Neid, ohne Unterdrückung, ohne Klassenunterschied, da ja jeder auf irgendeinem Gebiet zu den Besten und damit zu den Herrschenden und Mitbestimmenden gehört. In kurzer Zeit wird sie Wirklichkeit sein, die klassenlose, wahrhaft demokratische Gesellschaft gleicher, freier, solidarischer Bürger!“

Professor P. schwieg, ergriffen von seinen eigenen großen Worten; auch ich war wunderbar bewegt von der herrlichen Rede des bedeutenden Balnibarben. Sag selbst, lieber Leser, muß man ihr nicht gläubiges Vertrauen schenken? Kann es überhaupt Leute geben, die sich, und seien sie noch so sehr im Herkömmlichen befangen, dieser Wahrheit verschließen?

Lügen der Ewiggestrigen: die angeblich katastrophalen Folgen der Reform

Ja, und das ist die trübste Erfahrung meines bisherigen Lebens, es gibt sie! Brutal, rücksichtslos und böse ist der Machtwille der bürgerlichen Eliteklasse in Balnibarbi (nur in Balnibarbi?), die ihre Sonderstellung, ihre Privilegien durch Professor P's Reform gefährdet sieht! Von einem Kollegen – er ist fortschrittlich gesinnt wie ich und hält sich gerade zu Studienzwecken in Lagado auf – erhielt ich den folgenden Bericht: Wie ein in Verteidigung gedrängtes, sich bedroht fühlendes Drachenungeheuer, zähnefletschend, wutschäumend, habe die Klasse der Reichen und Privilegierten Professor P's verheißungsvoll gedeihendes Werk angegriffen, um es in Stücke zu zerfetzen. Diese schamlos erfundenen Nachrichten würden unters Volk gestreut, um die Reform zu diffamieren: Das Leistungsniveau sei in geradezu erschütternder Weise nach unten geschnellt, den Kollektivabiturienten fehle das einfachste Grundwissen im Rechnen, Lesen und Schreiben, von der Beherrschung wenigstens einer Fremdsprache oder soliden Kenntnissen in naturwissenschaftlichen Fächern ganz zu schweigen. Kaum einer passe im Unterricht auf, kaum einer bereite sich auf die Schulaufgaben vor, fast jeder verlasse sich auf die anderen. Trotzdem, so paradox es klinge, die Schüler seien von einer unglaublichen Arroganz und unbeschreiblichen Einbildung; keineswegs gäben die Besten auf ihrem Spezialgebiet den Ton an (wirklich gute Schüler seien im Gegensatz zum alten System kaum mehr zu finden), vielmehr halte sich jeder auf jedem Gebiet für den Fähigsten, und die dümmsten und frechsten Schreier setzten sich durch; die ganz, ganz wenigen kenntnisreichen und bescheidenen Schüler, die es, der Reform zum Trotz, als Ausnahmeerscheinungen ab und zu noch gebe, würden in der Regel vom Kollektiv beneidet, gehaßt und unterdrückt. Neuerdings mehrten sich die Stimmen von einflußreichen Schülersprechern, die die Kollektivschulaufgabe als Repression und Schikane bezeichneten: es sei unerträglich, daß ein ganzes Klassenkollektiv von einem einzigen Lehrer geprüft und benotet werde; Noten unter „sehr gut“ (15 Punkte) könnten auf keinen Fall hingenommen werden; auch wenn der Lehrer sich eine andere Lösung vorgestellt habe, sei zu bedenken, ob nicht die Lösung des Kollektivs die bessere sei, da ein Kollektiv notwendig der Wahrheitserkenntnis näher sei als ein einzelner! Der Lehrer solle höchstens in beratender Funktion bei der Notenfindung mitwirken dürfen, das Kollektiv könne sich schließlich selbst benoten, ja, es sei überhaupt zu fragen, ob die Existenz der Lehrer in einer fortschrittlichen Gesellschaft noch geduldet werden könne; denn erstens könnten sich die Schülerkollektive in Form von Kommunikation und Diskussion sehr wohl selbst belehren – Ziel der pädagogisch-didaktischen Entwicklung sei das autodidaktische Schülerkollektiv – und zweitens: die Belehrung einer großen Mehrheit durch die winzige Minderheit einer privilegierten Lehrerkaste sei höchst undemokratisch und gefährlich! Wer wisse, ob nicht die Lehrer die Schüler in ihrem, der Lehrer, Sinne indoktrinieren wollten? Sie, die Schüler, hätten wirklich keine Lust, jetzt, wo sie im Begriff seien, das Joch der Konservativen, der Ewiggestrigen, der Kapitalisten und Faschisten abzuwerfen, sich ein neues Joch aufzubürden: die Diktatur der Lehrerkaste! So die Schülersprecher! Die Lehrer stünden den immer selbstbewußter werdenden Kollektiven immer hilfloser gegenüber, die Lehrerselbstmorde häuften sich! Die Schulreform sei das Produkt schwerwiegender Denkfehler. Professor P. habe offenbar während seines Studienaufenthalts auf der Fliegenden Insel jeden Bezug zur Realität verloren, seine Anhänger aber, diese erbärmlichen Pseudointellektuellen, die sich selber für die Elite der Nation hielten und Professor P. für einen großen Propheten, diese harmlosen und gleichzeitig gefährlichen Dummlinge klatschten dem himmelschreienden Reformunsinn des Professors andächtigen Beifall aus panischer Angst, für rückschrittlich oder dumm zu gelten usw. usf.

Gewalt als letztes, unvermeidbares Mittel, den Fortschritt zu sichern

Lieber Leser, diese zynischen, infamen, an den Haaren herbeigezogenen Verleumdungen zu widerlegen wäre genauso nutzlos und überflüssig wie der Versuch, in einem Bierzelt mit Streichquartettmusik Stimmung zu machen, oder der Versuch, einer niederbayerischen Kartlerrunde dickschädeliger Großbauern die weltgeschichtliche Bedeutung eines Marx, Mao, Lenin, Hò Chi Minh oder Professor P. zu erläutern! Denn mit Argumenten ist der sich in wildem Selbsterhaltungstrieb an die überkommenen Privilegien sich klammernden Klasse der Reichen und Besitzenden nicht beizukommen.


Deshalb erfüllt mich die neueste Nachricht, die mich aus Lagado erreicht, mit tiefster Befriedigung und ich hoffe und bete, daß in meinem eigenen Land Ähnliches geschehen möge! Die progressiven Politiker in Balnibarbi (sie genießen die volle Unterstützung des progressiven Königs) beabsichtigen, unter allen Umständen nicht nur festzuhalten an der neuen Schulform, sondern sie zur einzig und allein erlaubten und staatlich anerkannten zu erklären. Denn der Staat hat dafür zu sorgen, daß die Menschen, die ja alle von Natur gleich sind, auch gleich bleiben. Sollte aber Professor P's Prämisse unrichtig sein, sollte die Natur ihre Gaben tatsächlich (ich kann es nicht glauben!) in schreiender Ungerechtigkeit ungleich verteilt haben, dann ist es erst recht Pflicht des Staates, die Natur durch seine Bildungspolitik zu korrigieren, alle Menschen gleich zu machen und damit die von der Natur vernachlässigte Gerechtigkeit herzustellen, und sei es mit staatlicher Gewalt. Denn im Dienste der sozialen Gerechtigkeit sind Zwang und Gewalt erlaubt. Die Fliegende Insel wird die entsprechenden Maßnahmen einleiten!

Literatur

  • Wolfgang Illauer: Latein darf nicht sterben. Leserbrief. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 155 vom 8. Juli 2002, S. 48

Querverweise

Netzverweise

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Als Titel der Satire hätte man auch den Namen der neuen Schule wählen können: „Die Koschagschule“, die Abkürzung für „Kollektivschulaufgabenschule“. Ein anderer Titel könnte auch lauten: „Der Weg zur idealen demokratischen Gesellschaftsordnung“.
  2. Der Buchtitel bzw. das Motto des Buches lautet übersetzt: „Aller Dinge Königin (ist) die Rede (Redekunst).“ Es handelt sich um den zweiten Teil eines bei Cicero zitierten Verses des römischen Tragödiendichters Pacuvius.

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